Tal der Traeume
Yorkey. »Sie haben dich verhaftet, weil du ihre Klamotten stehlen wolltest?« »Nein, sie meinen, ich hätte einen Boss mit dem Speer durchbohrt.« »Und stimmt das?«, fragte Yorkey eifrig. Sein Zellengenosse hockte vor ihm und betastete vorsichtig seine Prellungen. »Bist du von einer Station?«, fragte er unvermittelt. »Nein, ich bin Treiber.« »Und weshalb bist du hier?« »Ich habe ein Haus niedergebrannt.« Numinga grinste. Das klang gut. In seinen wilden Tagen hatte er selbst ein paar Häuser angezündet. »Ich habe den Boss nicht angegriffen«, versicherte er dann. »Die Zeiten sind lange vorbei.« »Wer denn dann?« »Geht mich nichts an. Und dich auch nicht«, knurrte er. Yorkey entschuldigte sich und erklärte, dass er den Boss der Station neben dem Weg und mit einer Speerwunde im Rücken gefunden und nach Hause gebracht hatte. »Ist er gestorben?« »Nein, es geht ihm schon besser.« Numinga nickte. »Gut. Diese Speere und all das Schießen haben keinen Sinn mehr. Sagst du dem Polizeiboss, dass ich es nicht war?« »Er wird mich wohl nicht anhören.« Numinga verzog das Gesicht. »Hast aber viel mit ihm geredet.« »Ich wollte nur dem weißen Boss Ärger bereiten, der das Vieh gestohlen hat«, erklärte er. »Sie stehlen Vieh von einem Boss und verkaufen es an einen anderen.« Nun hatte er Numinga erneut gekränkt. »Bin doch kein dummer Schwarzer.« Der ältere Mann schnaubte. »Ich weiß das. War früher selbst Viehhüter.« Yorkey entschuldigte sich wieder. Dieser Kerl mit dem Granitgesicht war ein harter Brocken und ungeheuer empfindlich. Obgleich er über vierzig sein musste, wirkte Numinga kraftvoll, ohne ein Gramm Fett am Körper, mit ausgeprägten Muskeln. Yorkey hatte bei seiner Ankunft zwar die Stammeszeichen auf seinem Körper bemerkt, aber nicht gefragt, zu welchem Stamm oder Clan er gehöre. Die Schwarzen im Busch gaben viel auf solche Dinge und machten einen großen Bogen um jedes falsche Totem. Sein Rücken rettete ihn schließlich.
Numingas Misstrauen schwand, als er begriff, weshalb Yorkey flach auf dem Bauch lag. Yorkeys Wunden empörten ihn, und nun war es an Numinga, sich zu entschuldigen. Er kenne Heilmittel für derartige Risse und bedauere, dass er ihm nicht helfen könne. Und so unterhielten sie sich in der kleinen, düsteren Zelle. Yorkey berichtete, wie er den verletzten Boss gefunden hatte, dass er ihm von der Schlucht aus gefolgt war. Von dem Erdrutsch, der die Treiber vor ungeheure Probleme stellte und einen Mann beinahe das Leben gekostet hatte. Numinga unterbrach ihn an dieser Stelle. »Einen Schwarzen?« »Nein, meinen Boss. Er ist Treiber.« »Ah. Er ist also nicht auf den Boden gefallen?« »Wer?« »Der Junge, der über die Klippe in die Schlucht gestürzt ist. Ich war da. Sein Herz sehnte sich danach, ein echter Stammesmann zu sein, doch man brachte ihn als kleinen Jungen in eine Missionsstation, wo er seine Traumzeit verlor. Ach ja.« Numinga nickte, senkte den Kopf und stimmte einen monotonen Gesang an, der wie ein Klagelied dahinfloss. Yorkey sträubten sich die Haare. Die Töne klangen vertraut, waren aber zu tief in seiner Erinnerung vergraben, als dass er sie ganz verstanden hätte. Er fühlte sich unbehaglich, bekam Angst. Er hätte schwören können, dass sie nicht allein waren. Yorkey verkroch sich in einer Ecke, bis der Gesang verstummte. »Das habe ich nicht verstanden«, sagte er aufgewühlt. Numinga seufzte. »Er ist über die Schlucht gegangen, sein Körper ist noch dort, doch die Geister fangen ihn auf, retten ihn und führen ihn in seine Traumzeit. Das ist gut. Das haben mir die Geister noch sagen wollen. Wir haben nie die vorgeschriebenen Klagen abgehalten, sonst hätten wir es gewusst.« »Du, ich nicht«, meinte Yorkey. »Nein, du warst auch dort. Du bist an dem leeren Körper vorbeigegangen. Denkst du, die Geister wüssten das nicht? Auch du bist ein verlorener Junge.« »Bin ich nicht«, entgegnete Yorkey aufgebracht. »Deine Geister kennen dich«, sagte Numinga sanft. »Sie waren hier. Du bist Waray, aber einer von dem uralten Eidechsenvolk, das in dieser Schlucht lebte, Eidechsen waren damals mächtiger als die schwachen Menschen…«
Yorkey war müde und erschöpft. Er wollte es nicht hören. Mit Gewalt riss er sich in die Wirklichkeit zurück. »Jemand ist in die Schlucht gestürzt?« »Das habe ich dir doch gerade erzählt.« »Und wurde getötet?« »Ja.« »Zur Zeit des Erdrutschs?« Numinga lächelte. »Kein Erdrutsch. Wir wollten euer
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