Talivan (German Edition)
ihn bezwingen konnte. Aber sorgt euch nicht“, sagte sie rasch, als ein plötzlicher Wind die Bäume erzittern ließ, „diese Ungeheuer leben so weit en t fernt, dass ich noch nie eines gesehen habe, und ich kenne jeden Hügel und jedes Tal bis zu den hohen Bergen dort.“ Dennoch sah sie sich, da sie ein Geräusch hinter sich hörte, rasch um, ob sich nicht ein Monster angeschlichen hätte, und atmete beruhigt auf, als sie einen Hasen in den Büschen ve r schwinden sah. Auch wenn sie wusste, dass ihr Heim in einem friedlichen Land lag, hatten die Erzählu n gen ihrer Mutter sie immer erschreckt und hoffen lassen, dass sie selber nie ein derart schreckliches Wesen zu G e sicht bekäme, wie Asina sie gesehen hatte.
Sie strich noch einmal sanft über die kühle Rinde des jüngsten Kirschbaumes, ehe sie das Unkraut zwischen den Erdbeeren, die sie erst im letzten Jahr gepflanzt hatte, vo r sichtig auszuzupfen begann. Als sie sich aufrichtete, um kurz ihren schmerzenden Rücken zu strecken, stutzte sie. Dort kam schon wieder einer dieser Störenfriede in ihren Garten, nachdem sie erst im letzten Mond von einem seiner Artgenossen heimgesucht worden war. Sie mochte diese großen Insekten nicht, die sich in ihren glänzenden Panzern zie l strebig näherten, um ihr scheinbar absichtlich die schönsten Blumen zu zerstören, und sie mit erhobenem Stachel angriffen, sobald sie sie sahen. Außerdem war Lir i na wie alle Drachen sehr traditionsbewusst, und so konnte sie erst recht nicht zulassen, dass ein Mensch u n gestraft ihren Garten ze r trampelte.
Sorgsam achtete sie darauf, dass ihr Feuerstrahl keine der jungen Kirschblüten zerstörte. Nachdem sie die Überreste des Ritters von den nahegelegenen Klippen ins Meer g e worfen hatte, fing sie noch ein paar Fische für ihr Nach t mahl, dann kehrte sie in ihren Garten zurück und sah wie an jedem Abend der Sonne zu, deren letzte Strahlen die Blumen und Bäume vor Lirinas Höhle in ein glühendes O range tauchten.
Lung-Jiaos Geschichte
Lung-Jiao hatte eine lange Zeit geschlafen. In den Nebeln über dem Sumpf, den er behütete, wisperten nur die immer gleichen Geister von den Tagen, als die Welt noch jung war. Längst waren sie müde geworden, überdrüssig der neuen Welt, in der Dämonen und Götter nicht mehr b e nötigt wurden. Die Menschen hatten sich eigene Götter und Dämonen geschaffen, die für die Lehmgeborenen leichter zu verstehen waren. Und so hatte auch Lung-Jiao aus dem Geschlecht der Sumpfdrachen sich zur Ruhe gelegt.
Nun erwachte er.
Die hastigen, stolpernden Schritte schlugen einen unrege l mäßigen Takt auf dem schmalen Weg, der sich durch das Moor zog, an manchen Stellen für Menschen kaum erken n bar und oft nur einen Schritt von den trügerisch schiller n den Sumpflöchern entfernt. Weiter fort, noch nicht in Lung-Jiaos kleinem Reich, spürte er die schweren Stiefel der Verfolger auf den Boden schlagen, schneller und weiter ausholend als die zarten Füße des jungen Mädchens, das die Männer jagten.
Lung-Jiao mischte sich nur selten in die Belange der Lehmgeborenen ein, doch er hatte noch nie z u gelassen, dass auf seinem Boden ein Unrecht b e gangen wurde. Durch den kühlen, weichen Grund glitt er an die Oberfläche empor. Er begrüßte die Sonne, die er seit vielen Jah r hunderten nicht g e sehen hatte, ließ den Morast zu Boden tropfen und warf sich, nachdem Sonne und Wind die letzten Spuren seiner Herkunft getilgt hatten, einen a n gemessenen Traum über.
Jetzt erst bemerkte ihn die junge Frau, die geradewegs auf ihn zugehastet war, schrie leise auf, versuchte stehenz u bleiben und fiel vor ihm ungeschickt auf die Knie. „Mei s ter, ich flehe Euch an, steht mir bei!“, keuchte sie und schlang ihre Arme um die Knie des Samurais, dessen G e stalt Lung-Jiao nun trug. Die Männer hinter ihr hatten die Grenze des Sumpfes nun überschritten, und obwohl sie Lung-Jiaos menschliche Gestalt bereits sehen mussten, hielten sie nicht inne.
Lung-Jiao begann mit dem Anführer. Ein leises Wort g e nügte, den Weg zu bitten, sich vor dem heranstürzenden Fremden zu öffnen. Der Sumpfdrache hoffte, die anderen würden aufgeben, doch die Schreie des Ertrinkenden, der vergeblich einen seiner Kumpane an den Stiefeln zu fassen versuchte, schienen die verbliebenen Männer noch mehr anzustacheln. Noch schwang die Todesangst durch das Moor und übertönte das leise Raunen der Geister, als sie schon weite r stürmten. Nun zögerte Lung-Jiao nicht
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