Talivan (German Edition)
mehr. Als sich der Sumpf erneut vor ihnen auftat, wurden alle Verfolger in die Tiefe gezogen. Es dauerte nur Sekunden, bis ihre Rufe verklungen waren.
Einen Moment lang hatte Lung-Jiao das Gefühl, die junge Frau könne durch den Schleier sehen, der seine wahre G e stalt verbarg. Dann aber, als sie sich, noch immer schluc h zend und keuchend, an seine Brust warf, entglitt ihm dieser Gedanke. Ohne sein Zutun legte seine mensc h liche Hand sich um ihre Hüfte und hielt sie fest, und Lung-Jiao spürte, dass er lange genug g e schlafen hatte.
Er hätte sie nicht zu fragen brauchen, doch Lung-Jiao wünschte sich keine Dienerin, die seine Wünsche e r füllte, ohne jemals nach ihren eigenen Sehnsüchten g e fragt zu werden. Das mochte den Sterblichen genügen, denen zu wenig Zeit auf Erden blieb, um zu einer höheren Stufe der Weisheit zu gelangen.
Lung-Jiao jedoch bat die junge Mei, und sie zögerte keinen Moment. Sie ging mit dem fremden Samurai in den Sumpf hinein, wo er ein Haus aus Lehm und Worten erschuf, und sie zögerte nicht, die Schwelle zu ihrem neuen Heim zu ü berschreiten.
Der Sumpfdrache fragte sie nie, was sie ahnte, was sie zu wissen glaubte. Vielleicht hielt sie ihn für einen Zauberer, vielleicht erkannte sie auch seine wahre Gestalt, doch was immer sie sah, schien ihr zu gefallen. Und Lung-Jiao aus dem Geschlecht der Sumpfdrachen genoss ihre Wärme, die die alte Kühle des Moores aus seinem Blut und Geist drängte. An manchen Tagen fühlte sich seine zufällige menschliche Gestalt wirklicher an als der Körper, an den er sich aus längst vergangenen Zeiten erinnerte. An diesen Tagen lauschte er vergeblich auf das Raunen der Geister, die sich um das Haus aus Lehm im Sumpf sammelten. Wenn er mit dem Schwert trainierte, übte er seinen Geist auf menschliche Art, und seine Liebe zu der Mensche n frau Mei wurde menschlicher mit jedem Tag.
Mit den Monden, aus denen Jahre wurden, begann Lung-Jiao zu vergessen. Die Sonne brannte manchmal zu hell in seinen Augen, die einst ohne zu blinzeln in die tödlichen Flammen des Feuerdrachens Ti-Fong geblickt hatten. Der Wind zerzauste seine Haare und stahl die Wärme von se i ner Haut. Und wenn sich Lehmbrocken aus seinem Heim lösten, wusste Lung-Jiao sich nicht anders zu helfen, als die Stellen notdürftig auszubessern. Mit den Jahren, aus denen Jah r zehnte wurden, wurde Lung-Jiao älter.
Es kümmerte ihn nicht.
Es war Mei, die schließlich ging, so hastig, wie sie in sein Leben getreten war, als fürchte sie, sonst den Mut zu ve r lieren. Als Lung-Jiao an diesem Morgen erwachte und spürte, wie die alte Frau ihren Weg aus dem Sumpf suchte, während die Geister der Spur ihrer Tränen folgten, begriff er zum ersten Mal wirklich, wie sich die Liebe der Me n schen anfühlte, und zum ersten Mal schmerzte das Herz, das er sich nur geborgt hatte.
Er zögerte nur einen Augenblick, ehe er den Traum a b streifte. Im ersten Moment verstand er nicht, wer er war und was seine Aufgabe; einen Herzschlag lang fühlten sich seine Gliedmaßen noch merkwürdig kurz und unbeho l fen an, nicht geschaffen für ein Leben auf dem Boden. Schon bald aber glitt sein schuppiger Leib wieder mühelos durch den Sumpf, und er wachte über Meis Schritte, bis sie auf sicherem Grund angelangt war. Dann erlaubte er dem Lehm, der mitten im Sumpf ein Haus formte, zurückz u fließen in die Einheit der Erde. Er lauschte den Geistern, die mit müden Stimmen ihre immer gleichen Geschichten aus alten Zeiten erzählten, und er schenkte ihnen eine neue G e schichte.
Dann spürte er, dass er lange genug gewacht hatte. Langsam schlief Lung-Jiao aus dem Geschlecht der Sumpfdr a chen ein. Wenn es an der Zeit war, würde er wieder erw a chen.
Zwischen den Welten
Sarina nahm das Kind erst wahr, als sie fast schon über das kleine Bündel aus Blättern und Fell g e stolpert war. Aus großen, grünen Augen sah der Junge sie an, ohne einen Laut von sich zu geben. Weder schien er zu frieren noch zu hungern, und als sie ihn vorsichtig vom Waldboden hoc h hob und auf den Arm nahm, lächelte er sie zahnlos an.
Die alte Frau überlegte keinen Augenblick. Immer wieder musste sie in das so friedliche kleine Gesicht sehen, wä h rend sie zurück nach Hause eilte, und das Lächeln wollte nicht aus ihren Augen weichen.
Die Fehlbildung des Jungen bemerkte sie erst, als sie ihn in ihr Haus gebracht hatte. Sarina wusste, dass Kinder, die anders waren, nicht nur von den Nachbarskindern ve r spottet
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