Talivan (German Edition)
wurden.
In den Gedanken vieler Menschen mochten noch immer Blumenelfen über die Wiesen tanzen und Luftgeister si l berne Träume über den Ruinen von Tamlia spinnen. Doch in Grovensalts Wirklichkeit war schon lange kein Platz mehr für Fremdartiges.
In der ersten Zeit, überlegte sie, wäre es nicht schwer, den merkwürdigen Buckel des Kindes zu verbergen. Aber s o bald er laufen konnte, würden die anderen Dorfbewohner seinen verwachsenen Rücken nicht mehr übersehen kö n nen. Dennoch überlegte Sarina keine Sekunde, was sie mit dem Kind tun sollte. Ein Geschenk des Himmels hätte sie nie zurückgewiesen.
Zunächst hatte Sarina noch geglaubt, der Knabe sei halb verhungert gewesen, als sie ihn aufgefunden hatte. Doch obwohl sie ihn reichlich mit Milch und später mit zu Brei ze r stampftem Gemüse und Ackerfrüchten fütterte, blieb er schmaler und blasser als die anderen Kinder. Stets aß Fr a no, wie sie den Jungen nannte, alles auf; nie forderte er mehr. Sarina kannte kein g e nügsameres Kind, und wäre nicht sein Buckel gewesen, hätte sie sich keine Sorgen um seine Z u kunft gemacht.
Solange Frano nicht laufen gelernt hatte, konnte sie seinen Buckel in dem Tragetuch leicht vor den anderen Nachbarn verbergen. Als er jedoch zum ersten Mal auf eigenen, noch wackligen Beinen durch die Straßen des Dorfes lief, sah Sarina die befremdeten, zum Teil auch mitleidigen Blicke der anderen. Keiner der Erwachsenen sprach sie auf die Fehlbildung ihres Ziehsohnes an, dazu war Sarina zu hoch g e achtet. Doch sie wusste, dass die Kinder des Dorfes sich nicht ebenso zurückhalten würden. Selbst in ihrer Gege n wart spotteten sie über Frano, der noch zu jung war, um das Gelächter richtig zu deuten, und freundlich zurüc k lächelte. Und Sarina konnte sich vorstellen, was der Junge durc h machen würde, sobald er alt genug war, um zu verstehen.
Frano hasste die Schule. Auch wenn seine Mutter ihm immer wieder erklärte, wie wichtig es sei, Lesen und Schre i ben zu lernen, hätte er doch lieber den ganzen Tag auf den Feldern des Dorfes gearbeitet oder den Förster in den Wald begleitet. Die Erwachsenen ließen es sich z u mindest nicht anmerken, wenn sie ihn nicht leiden konnten. Die Kinder jedoch zeigten nur zu deu t lich, was sie von Frano hielten – „Krüppel“ und „Idiot“ nannten sie ihn, manchmal auch „stinkender Höhlentroll“. Die alten Sagen und Legenden hielten viele Schimpfworte bereit für einen, der anders war.
Auch als er älter wurde, nahmen die Angriffe der anderen Kinder nicht ab. Immer wieder wurde er gequält und ve r prügelt, bis Sarina schließlich ein Einsehen hatte. Frano war immer gerne über die Felder und durch den Wald g e laufen, doch der Schuster war der Einzige, der bereit war, ihn als Lehrjungen anz u nehmen. So fand er sich schließlich mit zwölf Jahren in der kleinen Werkstatt zwischen Haufen von Leder wieder, und bald verfolgte ihn der Geruch der Schuhe bis in seine Träume.
Dennoch war er glücklicher als in den vergangenen Jahren. Zwar spürte er die Blicke der Erwachsenen auf sich, wenn er durch die Straßen des Dorfes ging, doch wenigstens die Kinder ließen ihn nun in Ruhe.
Das änderte sich, als Sarina am Sumpffieber e r krankte. Frano hatte nie darüber nachgedacht, was geschehen wü r de, wenn seine Mutter nicht mehr für ihn sorgen konnte, und Sarina blieb keine Zeit mehr, neue Zieheltern für ihn zu suchen. Nach ihrem Tod, nur vier Tage nach dem Au s bruch der Krankheit, war alles anders.
Aus den heimlichen Blicken und leisen Worten der Nac h barn war offener Hass geworden. „Dieses unselige Hexe n balg“, hörte Frano sie reden, nun laut genug, dass er es h ö ren musste. „Sicher hat er die arme Sarina verflucht.“
„Seht ihn euch nur an“, sagen andere und musterten ihn a b schätzig, „so sieht doch kein guter Mensch aus, der den Willen der Götter achtet.“
„Was wird er als Nächstes tun, nachdem er schon seine e i gene Ziehmutter getötet hat?“, fragten die Menschen aus dem Dorf.
Frano wartete nicht länger. Er ahnte, dass die E r wachsenen zu weit schlimmeren Dingen imstande waren als die Kinder, und nun, wo seine Mutter ihn nicht mehr b e schützen konnte, war seine Furcht vor den anderen Dor f bewohnern größer als die Angst vor der Fremde. Er nahm so viel Brot und Pöke l fleisch mit, wie er tragen konnte, als er das Dorf in der Nacht nach Sarinas Beerdigung verließ.
Tag für Tag, Nacht für Nacht lief er durch den riesigen
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