Talk Talk
beide Studenten und trugen identische Micky-Maus-Tätowierungen an den Innenseiten ihrer linken Handgelenke. Wenn Dana in Gebärdensprache redete, starrte man sie immer an, offen oder verstohlen, und als sie jünger gewesen war – besonders in der schwierigen Zeit der Pubertät –, hatte ihr das etwas ausgemacht. Oder nein: Es hatte sie gekränkt. Sie war anders, aber sie hatte nicht anders sein wollen. Damals nicht. Damals, als selbst die kleinste Abweichung in Kleidung oder Frisur sofort in der ganzen Klasse Wellen geschlagen hatte. Heute war es ihr gleichgültig. Sie war taub und die anderen nicht. Sie würden nie verstehen, was das bedeutete.
Ein letztes Schulterzucken, langsamer und ausgeprägter diesmal. Ja.
Sie buchstabierte seinen Namen mit den Fingern, und das war etwas sowohl Intimes als auch Formelles. Es war intim, weil es persönlich war, weil sie ihn mit Namen ansprach, anstatt mit dem rechten Zeigefinger auf ihn zu deuten – du –, und es war formell, weil es wie etwas wirkte, was eine Mutter oder Lehrerin tat, wenn sie, um ihr Mißfallen zu bekunden, den vollen Namen des Übeltäters benutzte. Charles anstatt Charlie. William anstatt Billy. B-r-i-d-g-e-r, du kommunizierst nicht.
Sie sah, wie er lachend den Mund öffnete, und freute sich daran, daß die trübe Beleuchtung die Goldfüllungen seiner Backenzähne aufblitzen ließ.
Und wie sollen wir den Bösewicht aufspüren, wenn du nicht kommunizierst?
Nun lachten sie beide, und ihr Lachen war vielleicht wild und unkontrolliert – von den meisten Gehörlosen hieß es, ihr Lachen sei bizarr, wiehernd, verrückt –, aber Dana wußte nicht, wie ihr Lachen klang, und es hätte ihr auch nicht gleichgültiger sein können. Hier drinnen war es warm. Hier drinnen war es laut. Ein Mann an der Bar drehte sich um und starrte sie an. »Jetzt mal im Ernst«, sagte sie laut. »die Vorwahl war 415?«
»Was?«
»Vier-eins-fünf?«
Er nickte. Die Musik mochte ohrenbetäubend sein, die Teller in den Regalen mochten klirren, die Leute in Deckung rennen, ganze Berge ins Meer rutschen – aber ein Nicken wurde immer verstanden.
»Die Bay Area«, sagte sie.
»Stimmt«, sagte er und beugte sich so weit vor, daß sie seinen Atem auf den Lippen spüren konnte. »Und die ersten drei Ziffern waren 235.«
Noch eine Nummer. Sie las sie von seinem Mund ab und wiederholte sie. »Zwei-drei-fünf.«
»Die hat Andy auch. Mein Freund Andy? Vom College?«
»In Marin, nicht?«
»Ja«, sagte er. »In Marin.«
Am Freitag morgen hielt sie die letzte Unterrichtsstunde des Semesters ab und fühlte sich nur erleichtert. Es waren Erstsemester, und so empfand sie nicht die Wehmut wie am Donnerstag, als die Abschlußklasse verabschiedet wurde, diejenigen, die nun in die Welt hinausgingen, um sich ohne ihre Lehrer durchs Leben zu schlagen. Nein, diese Schüler würde sie im nächsten Semester wiedersehen, und sie würden größer, stärker, klüger sein, und sie würde ihnen Worte geben, Worte auf Papier und im Geist und in dem tiefsitzenden stummen Rhythmus der Jamben, der so natürlich wie das Atmen war. Welch’ Lippen meine küßten, wo und wann / Hab’ ich vergessen . Während sie ihre Sachen zusammenpackte und Bücher, Papiere und Videokassetten sortierte, überkam sie plötzlich ein Hochgefühl, wie es ein Läufer verspüren mochte, der das Zielband zerriß: Ihr erstes Jahr war vorbei, vor ihr lagen die großen Ferien, und der bohrende Schmerz der Ereignisse des letzten Wochenendes ließ langsam nach.
Die anderen Lehrer gingen zum Mittagessen in ein Restaurant am Meer, um das Semesterende mit Muscheln, Fisch und Pommes frites sowie der wohlüberlegten und rein therapeutisch indizierten Einnahme von Alkohol zu feiern, doch sie ging zum Zahnarzt. Oder vielmehr zum Kieferchirurgen. Wurzelbehandlung . Schlichte Daktylen. Allerdings handelte es sich nicht um metaphorische Mysterien: Wie die Wurzel eines Baumes verzweigte sich die Zahnwurzel in ihrem Kiefer, durchzogen von einem lebendigen Nerv, der Schmerz an den Thalamus meldete. Der Kanal, in dem der Nerv verlief, mußte von Dr. Stroud unter zarter Zuhilfenahme seiner Instrumente aufgebohrt werden, und obgleich ihr das Geräusch, das die Hörenden so verschreckte, erspart blieb, würde sie doch den Gestank des versengten Knochens riechen, während der Schädel unter dem seismischen Reiben des Bohrers erbebte. Und der Schmerz – dafür gab es kein Wort. Sie fühlte ihn wie jeder andere, vielleicht noch stärker. Sie konnte
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