Talk Talk
ihn schmecken, sie konnte ihn sehen wie eine Aura. Schmerz. Bridger hatte natürlich eine ganz andere Betrachtungsweise – das konnte er sich auch leisten, denn schließlich war nicht er derjenige, der sich der Prozedur unterziehen mußte. Am Abend zuvor hatte er ihr, um sie zu beruhigen, von seinem letzten Besuch beim Zahnarzt erzählt: Er habe schon in den ersten drei Minuten sämtliche Namen genannt und all seine Geheimnisse verraten, doch der Kerl habe einfach nicht aufgehört zu bohren. Sie antwortete in Gebärdensprache: offene rechte Hand, Handfläche nach innen, Finger aufwärts gestreckt, Fingerspitzen berühren kurz den Mund, dann die Hand nach außen und unten führen, bis die Handfläche nach oben zeigt. Danke . Und dann laut: »Daß du mir das erzählt hast.«
Seit ihrem Streit am Dienstag war sie Koch aus dem Weg gegangen, aber als sie, schon wieder leicht verspätet und zwei Pappkartons voller Bücher und Papiere in den Armen, durch den Korridor eilte, mit umgehängter Tasche, die an ihren Oberschenkel schlug und schräg zur Seite stand, trat er aus seinem Büro. Sie sahen einander an – er sah sie, sie sah ihn, es war unvermeidlich –, und sein Mund setzte sich in Bewegung. Doch sie wußte nicht, ob er Kaugummi kaute oder einen Monolog aus Richard III. zum besten gab, ob er ihr die Entschuldigung anbot, die er ihr schuldete, oder ihr eine Drohung, eine Beleidigung an den Kopf warf, denn sie schlug die Augen nieder und ging an ihm vorbei, als wäre er eine Figur in einem Traum.
Sie kam zu spät, und darum ließ Dr. Stroud die üblichen, mit Begrüßungsgeplauder, Klatsch und Neuigkeiten aus aller Welt ausgefüllten zehn Minuten weg und ließ sie gleich auf dem Behandlungsstuhl Platz nehmen. Dennoch stand sein Mund nicht still: Er berichtete von dem kleinen Unfall seiner Frau, einem Blechschaden (Dana gefiel dieses Wort: dieser Rhythmus und die Art, wie die Lippen aufplatzten und die Zähne entblößten), den sie in der Woche zuvor beim Bauernmarkt gehabt hatte. Sie war wegen der Blumen hingefahren, sie war ganz verrückt nach Blumen und roten Beten und Brokkolini, und hatte er ihr schon mal erzählt, wie ihr mitten in der Parade am 4. Juli der Sprit ausgegangen war? Irgendein überängstlicher Besitzer einer Boutique für zartes Gemüse war mit seinem vier Tonnen schweren Suburban rückwärts auf ihren Wagen aufgefahren. So ungefähr jedenfalls. Die Brokkolini waren ein bißchen problematisch und warfen Dana um ein, zwei Sätze zurück. Bevor er den Kofferdamm und den Kieferspreizer einsetzte, konnte sie noch antworten, daß Brokkolini ihr absolutes Lieblingsgemüse waren – gedünstet in Olivenöl mit fein geschnittenem Knoblauch, Schalotten und ein wenig Dijon-Senf – und daß sie hoffte, der Schaden am Wagen sei nicht so schlimm, doch da war er schon bei einem anderen, dentalen oder kieferchirurgischen Thema, denn mit einemmal zogen sich seine Augenbrauen zusammen, und die Pupillen verengten sich. Im nächsten Augenblick legten er und die Helferin die Masken an, Dana spürte den Einstich der Nadel im Zahnfleisch, und damit war die Kommunikation beendet.
Zwei Stunden auf dem Stuhl. Bohren, aushöhlen, Stift einpassen, Provisorium aufsetzen – jeder andere hätte diese zwei Stunden abgeschrieben. Dana nicht. Sie war, wie Bridger gern (und abschätzig) betonte, ein A-Typ. Als wäre das etwas, dessen man sich schämen müßte, als wären die A-Typen nicht das Fundament der Zivilisation, als hätten sie nicht Armeen angeführt, als hätten sie nicht in Laboratorien und Konzertsälen, in Universitäten und Krankenhäusern und sonstwo Durchbrüche erzielt. Mach ein bißchen langsamer, sagten die Leute, sagte Bridger, entspann dich und lebe im Augenblick. Aber das waren B-Typen, Schlaffis. Wie Bridger. Und waren das die beiden einzigen Typen? Nein, dachte Dana, es mußte noch einen dritten geben: Typ C – der Verbrecher. Der Mann, der sie von dem Fax in der Polizeiwache angestarrt hatte, war so einer: Wozu etwas erschaffen und aufbauen, wozu sich hinlegen und den Duft der Rosen genießen, wenn man das alles einfach stehlen konnte?
Sie war also Typ A. Und sie hatte zwei Stunden. Natürlich wußte sie, daß es unter den gegebenen Umständen schwierig sein würde, sich zu konzentrieren – die Finger des Arztes waren in ihrem Mund, und immer wieder tauchte in ihrem Blickfeld die Helferin auf, als wäre Dr. Stroud die Sonne und sie der Mond. Kein Hörender wäre dazu imstande gewesen, doch Dana
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