Talk Talk
beherrschte die Kunst, die Welt auszuschließen, sie war eine Meisterin darin, und sie hatte das dünne Manuskript von Wildes Kind mitgebracht. Es war über eine Woche her, daß sie sich ernsthaft Gedanken darüber hatte machen können, und das ärgerte sie. Selbstverständlich konnte sie hier nicht schreiben – das war ausgesprochen unrealistisch, und sie machte sich keine Hoffnungen –, aber Bridger verstand nicht, wie wichtig es war, zu revidieren und zu ändern und immer wieder in eine selbstgeschaffene Welt einzutreten und den Weg zu einem Ziel zu suchen, von dem sie nicht einmal ahnte, wo es lag.
Der Bohrer grub sich tiefer, der Damm hielt. Dr. Stroud sondierte. Die Helferin tauchte auf. Dana hielt das Manuskript in einer Hand, blendete die beiden aus und begab sich an einen vollkommen anderen Ort, wo sie nicht Dana Halter von der Gehörlosenschule in San Roque war, sondern ein namenloser, nackter Junge, elf Jahre alt, der nur in seinen Sinnen lebte. An seiner Kehle hatte er eine Narbe, einen gezackten Höhenzug auf seiner Haut, den er betastete, weil er eben da war. Diese Narbe war die erste von allen und trug ihn zurück zu dem Augenblick, als er zum ersten Mal beim Erwachen schwankende Bäume gesehen und die rhythmischen Laute von Vögeln und Insekten gehört hatte, im Einklang mit der Heftigkeit des Windes in den Wipfeln und der Höhe jedes Tons, den die Äste sangen. Er lebte in Frankreich, in dem wilden Wald La Bassine , doch das wußte er nicht. Er lebte eintausendachthundert Jahre nach Christi Geburt, doch auch das wußte er nicht. Er wußte nur, wie man im Wald nach Wurzeln und Knollen grub, wie man von Beeren, Grashüpfern, Fröschen und Schnecken satt wurde, wie man in einem Laubnest auf den Fersen hockte und der Symphonie des Windes, der Melodie der Bäche und den Geräuschen der Insekten lauschte, der tagaktiven und der nachtaktiven. Und die Welt drehte sich für ihn allein, und keine menschliche Stimme, keine Worte drangen in sein Leben ein...
Doch da war Dr. Stroud. Er richtete sich auf, nahm die Maske ab, lächelte sie an und war stolz auf seine gute Arbeit. Auch die Helferin lächelte. »Das war nicht so schlimm, oder?« sagte er und bewegte Lippen, Kiefer und Zunge möglichst deutlich, damit sie ihn verstand.
»Nein«, sagte sie, und ihre eigenen Lippen waren unbeholfen und gefühllos, »gar nicht schlimm.«
»Gut«, sagte er, »gut. Aber Sie sind auch eine mustergültige Patientin, kann ich Ihnen sagen.« Seine Augenbrauen sahen aus wie Zelte. Er hatte die Fäuste bis zu den Schultern erhoben und schüttelte sie zum Zeichen ihres gemeinsamen Triumphs. »Sollten Sie Schmerzen haben, nehmen Sie Advil. Und für den Rest des Tages keinerlei Anstrengungen.« Ja, das war es: Anstrengungen. »Nehmen Sie sich frei. Legen Sie die Füße hoch. Entspannen Sie sich.«
Sie nickte. Ihr Mund war zu einer von Xylocain gelähmten Maske erstarrt. Und dann begann er mit einer verwickelten Geschichte über eine andere Patientin, deren Namen er aus Gründen der ärztlichen Schweigepflicht nicht nennen durfte. Sie war eine Art Hypochonder – er kaute das Wort. Und das war das letzte, was Dana verstand, denn er vergaß, daß sie von seinem Mund ablas, und sprach so schnell, daß auch ein Hörender ihm kaum hätte folgen können. Ein Wort schoß ihr durch den Kopf – Schnellschwätzer –, und sie versuchte zu lächeln, ganz gleich, ob er das mißverstand oder nicht. Sie hatte sich vom Behandlungsstuhl erhoben und stand an der Tür, und er redete noch immer wie ein Wasserfall, doch für sie war es, als würde er Kaugummi kauen.
DREI
Madison war beim Klavierunterricht, Natalia lag auf der Terrasse in der Sonne, und er beugte sich über die schwarze Granitplatte der Küchentheke und mixte die zweite Runde Seabreezes. Eingehüllt in einen Kokon der Stille (der CD -Player mußte neu programmiert werden, aber er war jetzt nicht in Stimmung, irgendwas zu programmieren), genoß er diesen Augenblick, da die ganze Welt sich einem öffnete, da alles, was man im täglichen Kampf wie besinnungslos zusammenraffte und an sich riß, um sich ein bißchen Macht zu sichern, plötzlich einfach vor einem lag und der Planet, nur für einen Moment, im Gleichgewicht verharrte. Und dabei war er nicht betrunken, noch nicht – daran also lag es nicht. Er war nur empfänglich für die kleinen Dinge: den Geschmack der Meeresluft, die durch das offene Fenster hereintrieb, die zarte Eisschicht auf dem Hals der Flasche Grey Goose aus
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