Taltos
Tür aussuchen.
Weil keine verriegelt oder verzaubert war, entschied ich mich für die mittlere. Ich schmierte die Scharniere und öffnete sie. Fünfundvierzig Minuten darauf stand ich wieder vor den drei Türen, und ich hatte eine wesentlich 82
bessere Vorstellung von Loraans Lieblingsmuscheln und ein sehr gutes Bild von seinen Vorlieben in der Kunst, aber keine Ahnung, wo der Stab sein sollte.
Ich überlegte, wie lange es wohl noch dauerte, bis jemand die Leichen in der Küche fand oder feststellte, daß die Wachen nicht auf ihrem Posten waren.
Das ging mir wirklich auf den Geist. Ich versuchte es mit der linken Tür.
Der Raum war erhellt, ich konnte aber nicht erkennen wovon. Jede Wand war etwa vierzig Schritte lang, und am anderen Ende befand sich eine weitere Tür. Ein großer Tisch, so drei Meter lang, stand wuchtig in der Mitte. Von der Decke hingen Kugeln, aus denen schmale Lichtstreifen sich an einem Punkt an der Seite bündelten, neben dem ein Stapel dicker, schwerer Bücher lag. Auf dem Tisch lag ein weiteres, geöffnet, mit einer Schreibfeder daneben, und eine halbe Seite war
beschrieben. Kleine, glitzernde Sterne lagen verstreut dort. Drei Zauberstäbe – von denen auf keinen die Beschreibung paßte, die mir gegeben worden war –
lehnten links neben mir an der Wand, und aus einem Sockel am Ende des Tisches erhob sich anscheinend eine goldene Kette, die, abgesehen vom unteren Teil am Sockel, in der Luft hing. Am Tisch stand ein
Breitschwert, das hier gar nicht hingepaßt hätte, wäre es nicht mit Runen und Symbolen bedeckt gewesen, die ich von meinem Standpunkt aus erkennen konnte. An der anderen Wand hing ein großes Becken, in dem sich wahrscheinlich irgendwas Unnatürliches befand, dem unaussprechliche Dinge zugefügt worden waren.
Falls es noch nicht deutlich geworden ist, ich befand mich in Loraans Arbeitsräumen.
Lange Zeit betrachtete ich den Boden vor meinen Füßen und überprüfte den Weg zur Tür gegenüber. Er sah 83
nicht nach Hindernissen aus. Ich schickte meine Beobachtungen an Sethra weiter, die sie zur Kenntnis nahm, ohne etwas dazu zu bemerken. Äußerst vorsichtig ging ich durch den Raum und erreichte geräuschlos die andere Tür.
Auch die sah ich mir genau an. Keine Zaubersprüche, keine Riegel, kein Alarm. Zur Sicherheit schmierte ich trotzdem die Scharniere und machte die Tür auf. Der Raum war kleiner, nicht so vollgestellt. Das einzig bemerkenswerte war mittendrin ein anscheinend aus orangefarbenem Licht bestehender Würfel von ungefähr anderthalb Metern Kantenlänge. In diesem glimmenden Würfel befand sich ein weißer, etwas über einen Meter langer Stab. An einem Ende davon konnte ich fast den rostigen Stern erkennen, nach dem zu suchen man mir aufgetragen hatte.
Das war allerdings nicht das einzige, was ich sehen konnte.
Neben dem Würfel aus Licht stand ein Dragaeraner. Er starrte mich an, ich starrte ihn an. Dieses Bild ist in meinen Gedanken so eingefroren – zwei Meter zwanzig groß, stämmig, buschige Brauen über einem glühenden Gesicht, drumherum lange, verfilzte, rötliche Haare, die in unmöglichen Büscheln abstanden. Er war alt, glaube ich, aber gewiß nicht gebrechlich. Aufrecht stand er da, fast so wie Morrolan, bevor er mich beinahe angegriffen hatte. Unter seinem engen weißen Hemd konnte ich die Muskeln erkennen, und er hatte seinen blutroten Umhang, der von einer Rubinspange so ähnlich wie Sethras gehalten wurde, zurückgeschlagen. Seine braunen Augen wirkten wach, und er blinzelte nicht, aber sein Gesichtsausdruck wirkte eher leicht neugierig als ängstlich oder erzürnt.
Nur die Hände sahen alt aus – lange Finger, verdreht 84
und gekrümmt, so als hätten sie unzählige winzige Narben. Was die verursacht haben könnte, weiß ich nicht.
Er hielt eine dunkle, dünne Röhre fest, etwas über einen Meter lang, die auf den Stab im Innern des orange Würfels deutete.
Der Mistkerl hatte doch tatsächlich eine Nachtschicht eingelegt.
Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hätte ich ihn beim Ziehen geschlagen, wenn ich so sagen darf, jedenfalls, wenn er mein Eintreten nicht bemerkt hätte.
Er fuchtelte vage in meine Richtung, und ich stellte fest, daß ich mich nicht mehr bewegen konnte. Ein schwarzer Nebel waberte vor meinen Augen. Ich sagte: »Tut mir leid, Sethra, diesmal nicht.« Und nichts hielt mich, als ich gegen das Nichts sackte, hineinfiel und begraben wurde.
85
Ich starrte auf den Horizont und seinen flimmernden
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