Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
her. Sie sah ihn auf der Straße von einem Fenster aus und hat den armen Tobin in den Turm hinaufgeschleift. Na ja, Tobin spricht nicht darüber, aber er hatte eine Platzwunde am Kinn, und ich habe Blut auf dem Fenstersims entdeckt.«
»Die Narbe?«
»Ja, daher hat er sie.«
»Du glaubst, sie wollte ihn töten?«
Nari erwiderte nichts.
So benommen sich Arkoniel von dem Trank fühlte, er starrte sie eindringlich an und versuchte, ihr Schweigen auszuloten. »Du denkst doch nicht – Nari, er ist kaum zehn Jahre alt und noch dazu nicht gerade kräftig für sein Alter! Wie sollte er eine erwachsene Frau aus einem Fenster stoßen?«
»Ich sage ja nicht, dass er es getan hat! Aber es kommt manchmal vor, dass er vom Dämon besessen zu sein scheint. Einmal hat er sein Zimmer kurz und klein geschlagen. Ich habe ihn dabei erwischt! Und das Turmzimmer, als wir ihn schließlich gefunden haben? Dort sah es genauso aus.«
»Das ist lächerlich.«
Nari faltete die Hände und musterte ihn mit gerunzelter Stirn. »Ich bin sicher, du hast Recht. Glaub mir, ich will nicht schlecht von ihm denken. Aber inzwischen redet er auch mit dem Dämon.«
»Mit dem Dämon?« Arkoniel dachte an das Geflüster, das er in der Küche gehört hatte, und an Tobins Bitte, sein Geheimnis für sich zu behalten.
»Er denkt, ich höre es nicht, aber das tue ich. Manchmal nachts, manchmal, wenn er hier drin ist und alleine spielt. Armes Ding. Er ist so einsam, dass er mit einem Geist redet, nur um einen Spielgefährten zu haben.«
»Er hat dich und seinen Vater. Und Tharin und den anderen scheint sehr viel an ihm zu liegen.«
»O ja. Aber für ein Kind ist das nicht dasselbe, oder? Du bist jung genug, um dich daran zu erinnern. Was hättest du getan, weggesperrt in einem alten Haus wie diesem, nur mit Bediensteten und Soldaten? Und die Männer die meiste Zeit nicht einmal da? Ich wette, du stammst aus einem Haus voller Kinder.«
Arkoniel kicherte. »Ich hatte fünf Brüder. Wir haben alle im selben Bett geschlafen und uns gezankt wie Dachse. Als Iya mich aufnahm, fand ich anfangs überall, wohin wir reisten, immer noch Kinder zum Spielen, bis sich zu zeigen begann, dass ich anders war.«
»Tja, unser Tobin ist auch anders, ganz anders, und er hat nie erfahren, wie es ist, mit einem anderen Kind zu spielen. Das ist nicht richtig. Das habe ich von Anfang an gesagt. Woher soll er wissen, wie die Menschen wirklich sind, wenn er hier abgekapselt ist?«
Ja, wie? , dachte Arkoniel. »Was stellt er denn mit seiner Zeit an?«
Nari schnaubte. »Schuftet wie ein Bauernlümmel und übt, um ein großer Krieger zu werden. Du solltest ihn mal sehen, wenn er mit den Männern zugange ist, wie ein Welpe, der sich auf Bären stürzt. Er kann von Glück reden, wenn er den Sommer ohne einen weiteren gebrochenen Finger übersteht. Tharin und sein Vater sagen, er ist flink und schießt so gut wie einige der Erwachsenen.«
»Das ist alles?«
»Er reitet gern, wenn ihn jemand begleiten kann, und er macht seine kleinen Schnitzereien – oh, und darin ist er wirklich gut!« Sie griff hinüber zum Fenstersims und legte mehrere kleine Tiere aus Wachs und Holz auf die Tagesdecke, damit er sie betrachten konnte. Sie waren ziemlich gut geraten.
»Und er spielt hier, in diesem Zimmer.« Sie deutete auf die Stadt und lächelte innig. »Der Herzog hat das vor Jahren für ihn gemacht. Sie haben etliche Stunden damit verbracht. Die Stadt soll Ero darstellen. Aber er darf nicht alleine nach draußen, um die Umgebung zu durchstreifen oder zu fischen, wie wir es als Kinder getan haben. Jedes Kind sollte das dürfen! Adlige Jungen dienen in seinem Alter bereits am Hof. Natürlich kann er das nicht. Aber Rhius erlaubt nicht einmal, dass ihn Kinder aus dem Dorf besuchen. Er fürchtet zu sehr, Aufmerksamkeit zu erregen.«
»Damit hat er Recht. Trotzdem …« Arkoniel überlegte kurz. »Was ist mit dem Rest des Haushalts? Weiß es sonst noch jemand?«
»Nein. Manchmal vergesse ich es selbst. Er ist unser kleiner Prinz. Ich darf nicht einmal daran denken, wie es für ihn sein wird, wenn die Veränderung kommt. Stell du dir mal vor, jemand sagt zu dir: ›Ach, übrigens, mein Schatz, du bist eigentlich gar kein …‹«
Sie brach den Satz ab, als Tharin mit dem Becher für Arkoniel zurückkehrte. Der Hauptmann wünschte eine gute Nacht und ging wieder, Nari hingegen verweilte noch kurz. Sie beugte sich dicht an das Ohr des Zauberers und flüsterte: »Jammerschade, dass Iya dem Herzog
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