Tamir Triad 02 - Die verborgene Kriegerin
Sie waren die Ersten, die Halbmonde auf die Stadtmauern malten und jedem zuflüsterten, der ihnen ein offenes Ohr schenkte: »Solange eine Tochter der Linie des Thelátimos über das Reich herrscht und es verteidigt, wird Skala niemals unterjocht werden. Sie kommt!«
Mittlerweile lebten zweiundzwanzig Zauberer unter den verlassenen Aurënfaie-Geschäften. Arkoniels junger Geistvernebler Eyoli hatte sich ihnen angeschlossen, als er durch den Schnee von Arkoniels Lager in den Bergen abgeschnitten wurde.
Die Gefährten, denen ihre üblichen Vergnügungen verwehrt waren, wurden bald unruhig. Tobin wandte sich wieder der bildenden Kunst zu und erteilte jenen Unterricht, die lernen wollten. Ki zeigte Begabung dafür, ebenso Lutha. Luchs konnte zeichnen und malen, und sie begannen, gemeinsam Entwürfe für Brustpanzer und Helme anzufertigen. Nikides offenbarte zögerlich ein Händchen fürs Jonglieren.
Caliel versuchte, unter den Adeligen eine Schauspieltruppe zusammenzustellen, aber schon nach wenigen Wochen langweilten sie einander zutiefst. Ohne Zugang zu den feinen Damen der Stadt begnügten sich die meisten älteren Jungen wieder mit Dienstmädchen. Zusthra wurde mit einer jungen Herzogin verlobt, allerdings konnten während der ersten Monate der formellen Trauer keine Vermählungen gefeiert werden.
Tobin suchten immer öfter die Frauenbeschwerden heim, unabhängig vom Stand des Mondes. Für gewöhnlich äußerten sie sich als flüchtige Schmerzen, aber manchmal, besonders bei Neu- oder Vollmond, vermeinte er beinah zu spüren, wie sich etwas in seinem Bauch bewegte, wie es Aliyas Kind getan hatte. Es war ein beängstigendes Gefühl, umso schlimmer, da er niemanden hatte, mit dem er darüber reden konnte. Auch neue Träume ereilten ihn, oder eigentlich war es ein Traum, der sich Nacht für Nacht in leicht abgewandelter Form wiederholte.
Er begann im Turm der Feste. Tobin stand dort mitten in der alten Kammer seiner Mutter, umgeben von zerbrochener Einrichtung und Haufen schimmliger Kleider und Wolle. Bruder löste sich aus den Schatten und führte ihn an der Hand die Treppe hinunter. Es war zu dunkel, um etwas zu erkennen. Tobin musste dem Geist und dem Gefühl der abgewetzten Steinstufen unter seinen Füßen vertrauen.
Alles schien sehr klar, genau, wie er sich daran erinnerte, doch als sie am Fuß der Treppe angelangten, schwang die Tür auf, und sie standen plötzlich am Rand eines hohen Abgrunds über dem Meer. Zunächst dachte Tobin, es handle sich um die Felsen von Cirna, als er jedoch zurückschaute, sah er sanfte, grüne Hügel, die sich in die Ferne erstreckten, und dahinter schartige Gipfel. Ein alter Mann beobachtete ihn von der Kuppe einer Erhebung aus. Er befand sich zu weit entfernt, um seine Züge ausmachen zu können, aber er trug die Gewänder eines Zauberers und winkte Tobin zu, als kenne er ihn.
Bruder weilte immer noch bei ihm und zog ihn mit sich zum Rand des Abgrunds, bis Tobins Zehen über den Rand ragten. Tief unten schimmerte eine breite Bucht gleich einem Spiegel zwischen zwei langen Landzungen. Durch eine Tücke des Traumes konnte er ihre Gesichter im Wasser widerspiegelt sehen, allerdings war sein Antlitz das einer Frau, und Bruder hatte sich in Ki verwandelt. Der Anblick überraschte Tobin jedes Mal aufs Neue.
Immer noch gefährlich nah am Abgrund drehte sich die Frau, die er geworden war, Ki zu und küsste ihn. Tobin hörte den Fremden auf dem Hügel etwas brüllen, aber der Wind trug seine Worte hinfort. Als die Lippen der Frau jene Kis berührten, erfasste sie eine Bö, wehte sie über den Rand, und sie fiel …
Dies war stets das Ende des Traums, und Tobin erwachte aufrecht im Bett sitzend, mit rasendem Herzen und pochend steifem Glied zwischen den Beinen. In dieser Hinsicht gab sich Tobin keinem Wunschdenken mehr hin. In Nächten, in denen Ki unruhig schlief und sich nach ihm streckte, flüchtete Tobin und verbrachte die restlichen dunklen Stunden damit, ziellos durch die Gänge des Palastes zu wandern. Voll Sehnsucht nach Dingen, auf die er nicht zu hoffen wagte, presste er die Finger an die Lippen und versuchte, sich an das Gefühl jenes Kusses zu erinnern.
Nach dem Traum war er am nächsten Tag stets niedergeschlagen und etwas zerstreut. Des Öfteren ertappte er sich dabei, Ki anzustarren und sich zu fragen, wie es sich anfühlen würde, ihn wirklich zu küssen. Rasch verdrängte er solche Gedanken, ohne dass Ki etwas bemerkte, den die greifbarere Zuwendung einiger
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