Tamir Triad 02 - Die verborgene Kriegerin
dem Ring waren für ihn zwei Fremde. Sie hatten dieses Zimmer, dieses Bett und ein Leben miteinander geteilt, das Tobin nie gekannt, zu dem Tobin nie gehört hatte.
Aber seine Neugier wuchs, genährt von der Einsamkeit, die nie völlig verschwand. Mit dem Ring nach wie vor am Finger öffnete er eine weitere Schatulle und entdeckte einige Juwelen, die seine Mutter hier gelassen hatte: eine Halskette aus geschliffenen Bernsteinperlen, eine Goldkette mit Gliedern wie Drachen, ein Paar Emailleohrringe mit glatten Steinen der Farbe eines Sommerhimmels. Tobin bewunderte die Handwerkskunst der Stücke; warum nur hatte seine Mutter diese Dinge nicht mitgenommen? Er legte sie zurück und öffnete ein großes Ebenholzkästchen. Darin befanden sich schwere Umhangbroschen aus Silber und ein Taschenmesser mit Horngriff. Die Gegenstände eines Mannes. Seines Vaters.
Als Nächstes begab er sich zu den Kleiderschränken. Der Erste enthielt nur ein paar altmodische Jacken auf Haken. Tobin ergriff eine davon und drückte sie sich gegen das Gesicht, suchte nach dem Geruch seines Vaters. Dann hielt er das Kleidungsstück hoch und dachte an die Rüstung, die sein Vater ihm mit dem Versprechen geschenkt hatte, dass er alt genug wäre, mit ihm in die Schlacht zu ziehen, sobald sie ihm passte. Tobin hatte sie lange nicht mehr anprobiert.
Er zog die Jacke über das Nachthemd an. Trotz all seines Wachstums im vergangenen Jahr reichte ihm der Saum bis unter die Knie, und die Ärmel hingen ihm über die Fingerspitzen.
»Ich bin immer noch zu klein«, murmelte er, hängte die Jacke zurück und wandte sich dem nächsten Schrank zu. Er schwang die Türen weit auf, dann unterdrückte er einen Aufschrei der Bestürzung, als ihm der Duft seiner Mutter entgegenwehte. Aber es war nicht ihr Geist; der Duft stammte von Büscheln ausgebleichter Blumen, die an Haken hingen, um die zusammengefalteten Kleider zu erfrischen.
Tobin kniete sich hin, um die Gewänder zu betrachten und bewunderte die Farben. Seine Mutter hatte immer satte Farbtöne vorgezogen, und hier waren alle vertreten – dunkles Weinrot, tiefes Blau, Safrangold, die Grünschattierungen eines Sommerwalds in Brokat, Seide, Samt und Baumwolle. Er berührte die Stoffe, zunächst zögerlich, dann begierig, als seine Finger die erhabenen Stellen von Stickereien, Pelzbesätzen und bunten Perlen fanden.
Ein schuldbewusstes Verlangen erfasste ihn; er stand auf und hob ein grünes, mit Winterfuchs gesäumtes Kleid heraus. Kurz hielt er inne und lauschte auf Schritte draußen auf dem Gang, dann trug er es zu dem langen Spiegel in der Nähe des Bettes.
Dort hielt er das Kleid vor sich und stellte fest, dass er inzwischen so groß sein musste, wie seine Mutter es gewesen war, denn der Saum berührte leicht seine Zehen. Er schüttelte die Falten aus dem Stoff und hielt sich das Kleid abermals unters Kinn; anmutig breitete sich das volle Gewand um ihn aus.
Wie es sich wohl anfühlen würde …?
Beschämt ob dieser unerwarteten Sehnsucht warf Tobin das Kleid rasch zurück in den Schrank. Dabei stieß er einen langen Umhang aus cremefarbenem Brokat von dem Haken, an dem er gehangen hatte. Er hatte einen hohen Kragen aus Hermelin und war an den Schultern mit blauen und silbrigen Strahlen bestickt.
Eigentlich wollte Tobin ihn nur zurückhängen, doch irgendwie fand er sich erneut vor dem Spiegel wieder, wo er sich das Kleidungsstück über die Schultern schlang. Der schwere Stoff schmiegte sich einer Umarmung gleich um ihn und fühlte sich wie kühles Wasser auf seiner Haut an. Er befestigte die goldene Schnalle am Kragen und ließ die Arme an die Seiten sinken.
Der weiche, weiße Pelz liebkoste seinen Hals, als er langsam die Augen zu seinem Spiegelbild anhob. Es kostete ihn Mühe, seinem eigenen Blick zu begegnen.
Meine Haare sind wie die ihren, dachte Tobin und schüttelte sie über die Schultern. Und ich habe ihre Augen, genau, wie alle sagen. Ich bin nicht wunderschön, wie sie es war, aber ich habe ihre Augen.
Der Umhang säuselte um seine Knöchel, als er zum Frisiertisch ging und einen der Ohrringe aus der Schatulle holte. Zwar fühlte er sich mit jedem verstreichenden Augenblick alberner, dennoch konnte er nicht aufhören, trug das Schmuckstück zurück zum Spiegel und hielt es sich ans Ohr. Vielleicht lag es an dem Juwel, vielleicht an der Haltung seines Kopfes, jedenfalls vermeinte Tobin, flüchtig jenes Mädchen zu erkennen, das Lhel ihm gezeigt hatte. Der blaue Stein betonte ebenso
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