Tamir Triad 02 - Die verborgene Kriegerin
wie die Stickerei des Umhangs seine Augen, ließ sie noch blauer wirken.
Im versöhnlichen Licht der kleinen Lampe wirkte das Mädchen beinah hübsch.
Mit zitternden Fingern berührte Tobin das Antlitz im Glas. Nun konnte er das Mädchen deutlich erkennen, jene Fremde, die ihm aus der Wasseroberfläche der Quelle entgegengestarrt hatte. Damals war keine Zeit gewesen, jetzt hingegen konnte er sie mit wachsender Verwunderung und Neugier betrachten. Würde ein Junge sie so ansehen wie seine Freunde die Mädchen, die ihnen gefielen? Der Gedanke daran, dass Ki ihn so mustern könnte, jagte einen heißen Schauder durch ihn. Das Gefühl schien sich wie die Mondschmerzen zwischen seinen Hüftknochen zu sammeln, nur tat dieses Empfinden nicht weh. Stattdessen spürte er, wie sich sein Glied aufrichtete. Das ließ ihn erröten, dennoch wandte er den Blick nicht ab. Plötzlich fühlte er sich wieder einsam und unsicher, und so rief er den einzigen Zeugen, den er rufen konnte.
Da Bruder kein Spiegelbild warf, forderte Tobin ihn auf, sich neben den Spiegel zu stellen, damit er ihre Gesichter vergleichen konnte.
»Schwester«, murmelte der Geist, als verstünde er die namenlose Pein, die in Tobins Herz anschwoll.
Doch das zerbrechliche Trugbild war bereits zerborsten. Seite an Seite mit seinem Zwillingsbruder sah Tobin im Spiegel nur einen Jungen mit dem Umhang einer Frau.
»Schwester«, wiederholte Bruder.
»Ist es das, was du siehst, wenn du mich anschaust?«, flüsterte Tobin.
Bevor Bruder antworten konnte, hörte Tobin vor der verriegelten Tür Stimmen. Er erstarrte wie ein verängstigtes Kaninchen und lauschte, wie Koni und Laris einander grüßten. Tobin wusste, dass es sich nur um die Wachablöse handelte, dennoch fühlte er sich wie ein Dieb, der gleich gefasst würde. Was, wenn jemand bemerkte, dass er aus seinem Zimmer verschwunden war, und sich auf die Suche nach ihm begäbe?
Was, wenn Ki ihn so hier vorfände?
»Verschwinde, Bruder!«, zischte er, dann verstaute er hastig den Umhang und den Ohrring. Er löschte alle Lampen, tastete sich zur Tür und lauschte, bis die Stimmen den Gang hinab verhallt waren.
Tobin schaffte es zurück in sein Zimmer, ohne jemandem zu begegnen, und Ki rührte sich nicht, als er wieder ins Bett kletterte. Er zog sich die Decke über den Kopf, schloss die Augen und versuchte, nicht an die Berührung des schweren Stoffes um seine nackten Beine zu denken, oder daran, wie ihn seine Augen für einen kurzen Lidschlag im Glas des Spiegels aus einem anderen Gesicht angestarrt hatten.
Ich bin ein Junge, sagte er sich stumm vor und presste die Augen zu. Ich bin ein Prinz.
K APITEL 19
Am nächsten Morgen ließ Korin alle bei Sonnenaufgang wecken, um rechtzeitig für den König fertig zu sein. Der Himmel war klar, und vom Fluss und den feuchten Feldern stieg in lang gezogenen Schwaden Nebel auf.
Die Gefährten legten ihre Rüstungen und Brustharnische an und trugen dazu ihre feinsten Mäntel. Als sie die Treppe hinuntergingen, fanden sie die Bewohner des Hauses in heller Aufregung vor.
Heerscharen von Bediensteten arbeiteten, wohin Tobin auch blickte. Die große Halle war bereits mit den Farben des Königs verhangen, und das goldene Besteck lag bereit. Draußen kräuselte sich Rauch aus den Küchenkaminen und mehreren Gruben im Küchengarten, wo ganze Hirsche und Keiler nach mycenischer Art über darunter vergrabenen Kohlenbetten geröstet wurden. Unterhaltungskünstler aller Art tummelten sich in Wartezimmern und auf Höfen.
Solari erwies sich abermals als Herr der Lage. Während er mit Tobin und den anderen frühstückte, legte er mit dem Verwalter und Lytia an der Seite dar, welche Zerstreuungen und Gänge für den Abend geplant waren. Alle paar Minuten setzte er ab und erkundigte sich: »Seid Ihr damit einverstanden, mein Prinz?«
Tobin, der von derlei Dingen nichts verstand, stimmte allem, was vorgeschlagen wurde, stumm nickend zu.
Als Solari mit der Aufzählung fertig war, rief Lytia zwei Diener herbei, die mit Tüchern verhüllte Kisten trugen. »Etwas Besonderes für die Gäste höchsten Ranges. Eine Spezialität dieses Hauses seit den Tagen Eurer Urgroßeltern, Prinz Tobin.« Sie zog eines der Tücher beiseite und hob eine mit erlesenen Glasrosen gefüllte Vase heraus. Tobin schnappte nach Luft; bearbeitetes Glas dieser Art war ein Dutzend edler Pferde wert. Seine Augen weiteten sich, als Lytia ungezwungen ein rubinrotes Blütenblatt abbrach und es sich in den Mund
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