Tamuli 1 - Die schimmernde Stadt
genauer ansehen. Wir kämpfen nicht immer beritten.«
»Ich werde Khalad darauf ansetzen«, versprach Sperber.
»Khalad?«
»Kurik hat ihn ausgebildet, und im Kampf Mann gegen Mann war er der Beste, den ich je kannte.«
»Das stimmt fürwahr. Gute Idee, Interimshochmeister Sperber.«
»Muß das sein?« klagte Sperber.
Zwölf Tage später erreichten sie die Stadt Atana – zumindest schienen es zwölf Tage gewesen zu sein. Sperber hatte beschlossen, nicht mehr über den Unterschied zwischen echter und scheinbarer Zeit zu grübeln. Aphrael beeinflußte den Zeitlauf, egal was er sagte oder tat. Warum also sich den Kopf darüber zerbrechen und Zeit vergeuden? Er fragte sich, ob Zalasta den veränderten Zeitablauf bemerkte. Wahrscheinlich nicht, ging es ihm durch den Kopf. Mochte der Styriker ein noch so geschickter Magier sein, er blieb ein Mensch, und Aphrael war eine Gottheit. Eines Nachts kam Sperber ein seltsamer Gedanke. Er überlegte, ob seine Tochter es wohl fertigbringen mochte, die Echtzeit schneller erscheinen zu lassen, als sie in Wirklichkeit war. Nachdem er kurz darüber nachgedacht hatte, beschloß er, sie lieber nicht zu fragen. Das Ganze bereitete ihm ohnehin schon Kopfschmerzen.
Atana war eine nüchterne, zweckorientierte Stadt in einem tiefen, grünen Tal. Sie war von einer Mauer umgeben, die weder sonderlich hoch noch beeindruckend war. Die Ataner selbst waren es, die ihre Stadt uneinnehmbar machten.
»Alles im Land heißt ›Atan‹, nur die Endungen unterscheiden sich, nicht wahr?« bemerkte Kalten, während sie zum Tal hinunterritten. »Das Königreich, seine Hauptstadt, die Bürger – ja, sogar die Titel.«
»Ich glaube, Atan ist mehr ein Begriff als ein Name«, meinte Ulath.
»Wieso sind sie alle so groß?« fragte Talen. »Sie gehören der tamulischen Rasse an, aber andere Tamuler überragen andere Menschen auch nicht wie Bäume.«
»Oscagne hat es mir erklärt«, sagte Stragen. »Die Ataner sind das Ergebnis eines Experiments.«
»Eines magischen?«
»Soviel weiß ich nicht darüber«, gestand Stragen. »Aber ich würde sagen, daß es sogar die Möglichkeiten der Magie übertraf. Noch ehe es so etwas wie Geschichte gab, stellten die Ataner fest, daß große Menschen mehr Kämpfe gewannen als kleine. Das war zu einer Zeit, als Eltern ihre Kinder verheirateten. Das größte Augenmerk wurde auf Körpergröße gelegt.«
»Was geschah mit kleinen Kindern?« fragte Talen.
»Wahrscheinlich das gleiche wie mit häßlichen Kindern in unserer Gesellschaft.« Stragen zuckte die Schultern. »Sie wurden nicht geheiratet.«
»Das ist nicht gerecht.«
Stragen lächelte. »Wenn man es recht bedenkt, Talen, ist es auch nicht gerecht, daß wir Dinge stehlen, die andere sich erarbeitet haben, nicht wahr?«
»Das ist etwas anderes.«
Stragen lehnte sich im Sattel zurück und lachte. Dann fuhr er fort: »Die Ataner legten auch Wert auf andere Eigenschaften – Geschicklichkeit, Kraft, Angriffslust und mörderische Rachsucht. Es ist seltsam, was diese Verbindung hervorbrachte. Wenn man darüber nachdenkt, wird einem klar, daß Mirtai eigentlich ein recht liebes Mädchen ist. Sie ist herzlich und freundlich, sie sorgt sich um ihre Freunde, und sie ist von aufregender Schönheit. Aber sie ist auch voller Fallstricke, und wenn jemand über einen stolpert, fängt sie zu töten an. Ich nehme an, das Ausleseverfahren der Ataner schoß schließlich übers Ziel hinaus. Die Ataner wurden so aggressiv, daß sie anfingen, einander umzubringen, und da eine solche Aggressivität nicht auf ein Geschlecht beschränkt bleiben kann, waren die Frauen in dieser Beziehung ebenso schlimm wie die Männer. Es kam so weit, daß es in Atan so etwas wie eine kleine Meinungsverschiedenheit nicht mehr gab. Die Ataner brachten einander schon um, wenn sie unterschiedlicher Meinung über das Wetter waren.« Er lächelte. »Oscagne erzählte mir, daß die Welt im zwölften Jahrhundert erfuhr, wie wild Atanerinnen waren. Eine große Schar arjunischer Sklavenjäger griff ein Ausbildungslager für halbwüchsige Atanerinnen an – Mädchen und Jungen werden getrennt ausgebildet, um gewisse Komplikationen zu vermeiden. Jedenfalls, diese heranreifenden Atanerinnen – die meisten kaum über sechs Fuß groß – töteten den Großteil der Sklavenjäger und verkauften die paar, die sie am Leben ließen, als Eunuchen an die Tamuler.«
»Die Sklavenhändler waren Eunuchen?« staunte Kalten.
»Nein, Kalten«, erklärte Stragen geduldig.
Weitere Kostenlose Bücher