Tamuli 1 - Die schimmernde Stadt
Brandzeichen unkenntlich?«
»Wahrscheinlich mit einem flachen glühenden Eisen. Wollt Ihr Mirtai immer noch heiraten, Kring?«
»Findet bitte heraus, welcher Körperteil gebrandmarkt wird, Sperber. Wenn ich das weiß, kann ich mehr sagen.«
»Ich vermute, daß es Stellen gibt, wo Ihr nicht gebrandmarkt werden möchtet?«
»O ja! Die gibt es ganz gewiß, Sperber!«
Sie verließen Darsas am nächsten Morgen im ersten Tageslicht und ritten in der Steppe von Mittelastel ostwärts gen Pela. Die Ataner umschlossen die Kolonne und hielten zu Fuß mühelos mit den Pferden Schritt.
Sperbers Sorge um die Sicherheit seiner Königin schwand merklich. Mirtai hatte ihrer Besitzerin knapp – ja, keinen Widerspruch duldend – erklärt, daß sie mit ihren Landsleuten marschieren würde. Die goldene Riesin hatte sich seltsam verändert. Die wachsame Anspannung, die ihr Wesen geprägt hatte, schien von ihr abgefallen zu sein.
»Ich könnte nicht genau sagen, was es ist«, gestand Ehlana, als sie sich am Vormittag darüber unterhielten, »aber sie scheint mir nicht mehr ganz die alte sein.«
»Das ist sie auch nicht mehr, Majestät«, warf Stragen ein. »Sie ist nach Hause gekommen. Und nicht nur das. Die Anwesenheit von Erwachsenen gestattet ihr, ihren natürlichen Platz in ihrer eigenen Gesellschaft einzunehmen. Sie ist noch ein Kind – zumindest in ihren eigenen Augen. Sie hat nie über ihre Kindheit gesprochen; aber ich vermute, daß es nicht gerade eine sichere und geborgene Zeit gewesen ist. Irgend etwas ist mit ihren Eltern geschehen, und Mirtai wurde in die Sklaverei verkauft.«
»Ihr ganzes Volk sind Sklaven, Durchlaucht Stragen«, gab Melidere zu bedenken.
»Es gibt verschiedene Arten von Versklavung, Baroneß. Die der atanischen Rasse durch die Tamuler ist gesellschaftlich festgelegt. Bei Mirtai hingegen ist es eine persönliche Sache. Sie wurde als Kind aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen, versklavt und dann gezwungen, zu ihrem Schutz eigene Schritte zu unternehmen. Nun, da sie wieder unter Atanern ist, kann sie ein wenig von ihrer Kindheit nacherleben.« Stragen verzog das Gesicht. »Eine solche Gelegenheit hatte ich leider nie. Ich wurde in eine andere Art von Sklaverei hineingeboren, und daß ich meinen Vater getötet habe, hat mir nicht wirklich die Freiheit gebracht.«
»Ihr macht Euch zuviel Gedanken darüber, Durchlaucht Stragen«, meinte Melidere. »Ihr solltet Eure unrechtmäßige Zeugung wirklich nicht zum Mittelpunkt Eures Lebens machen, wißt Ihr. Es gibt viel Wichtigeres auf der Welt.«
Stragen blickte sie scharf an, dann lachte er ein wenig einfältig. »Komme ich Euch wirklich so voll Selbstmitleid vor, Baroneß?«
»Nein, das nicht. Aber Ihr seid offenbar der Meinung, mich bei jeder Gelegenheit darauf aufmerksam machen zu müssen, Durchlaucht. Für uns, Eure Freunde und Gefährten, ist es nicht von Bedeutung. Warum macht Ihr Euch also selbst das Leben schwer?«
»Seht Ihr, Sperber«, sagte Stragen. »Genau das habe ich gemeint. Ich kenne niemanden sonst, der so unehrlich ist.«
» Durchlaucht Stragen!« protestierte Melidere.
»Das ist die Wahrheit, meine liebe Baroneß.« Stragen grinste. »Ihr lügt nicht mit dem Mund, sondern mit Eurer ganzen Person. Ihr täuscht vor, nur Stroh in Eurem hübschen Kopf zu haben, und dann bringt Ihr mit einer einzigen Bemerkung eine Fassade ins Wanken, an deren Aufbau ich ein Leben lang gearbeitet habe. ›Unrechtmäßige Zeugung‹ – also wirklich. Es ist Euch gelungen, den tragischsten Umstand meines ganzen Lebens als etwas völlig Belangloses hinzustellen!«
»Könnt Ihr mir je verzeihen?« Ihre Augen waren groß und scheinbar unschuldsvoll.
Stragen warf die Arme hoch. »Ich gebe es auf. Wo war ich? Ach ja, die scheinbare Veränderung von Mirtais Persönlichkeit. Ich glaube, das Initiationsritual der Ataner ist ein sehr einschneidender Schritt in ihrem Leben. Das ist ein weiterer Grund, weshalb unsere geliebte kleine Riesin sich wie ein Kind aufführt. Engessa wird das Ritual mit ihr vollziehen, sobald wir ihre Heimat erreichen. Deshalb versucht Mirtai, die letzten Tage ihrer Kindheit voll auszukosten.«
»Darf ich mit dir reiten, Vater?« fragte Danae.
»Wenn du möchtest.«
Die kleine Prinzessin rutschte von ihrem Sitz in der Kutsche, vertraute Rollo Alean und Baroneß Melidere an, und streckte Sperber die Arme entgegen.
Er hob sie auf ihren gewohnten Platz vor seinem Sattel.
»Reite ein bißchen mit mir spazieren, Vater«, bettelte Danae
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