Tamuli 3 - Das Verborgene Land
hier aus nach Westen reiten.«
Tikume runzelte die Stirn. »Wenn wir nicht wissen, wie weit die Stadt entfernt ist, wie können wir da sicher sein, daß wir am Morgen dort sind?«
»Oh, wir werden schon rechtzeitig eintreffen, Freund Tikume«, versicherte Anosian ihm. »Aber wir sollten jetzt lieber aufbrechen. Gott Hanka ist bekannterweise sehr hitzköpfig. Wenn wir nicht bald westwärts reiten, ist ihm zuzutrauen, daß er uns einfach beim Schlafittchen packt und uns von hier nach Cyrga wirft.«
Der Tempelwächter nahm eine kriegerische Haltung an – eine ziemlich steife, förmliche Pose, wie man sie mitunter auf dem Fries eines nicht sonderlich begabten Bildhauers sehen mag. Kalten schlug dem Mann das Schwert aus der Hand und schmetterte ihm die Faust an die Seite des Helmes. Der Wächter taumelte nach hinten und fiel schwer auf die Kopfsteine. Er plagte sich, wieder aufzustehen, als Kalten ihm ins Gesicht trat. »Nicht so grob, Kalten!« rügte Sperber ihn heiser.
»Tut mir leid. Es überkam mich wohl plötzlich.« Kalten bückte sich und zog ein Lid des liegenden Wächters zurück. »Er wird bis mittags schlafen.« Dann richtete er sich auf und schaute sich um. »Sind das alle?«
»Das war der letzte«, wisperte Berit. »Sie liegen mitten auf der Straße. Schaffen wir sie weg. Bald geht der Mond auf, und dann wird es in diesem Becken taghell!« Es war ein kurzer, grausamer Kampf gewesen. Sperber und seine Freunde hatten sich von einer dunklen Seitenstraße aus von hinten auf den ahnungslosen Trupp gestürzt. Sie hatten ihren Erfolg zu einem großen Teil dem Überraschungseffekt zu verdanken. Hinzu kam, daß die Soldaten für feierliche Zeremonien ausgebildet waren und nicht für den Nahkampf. Sperber fand, daß die Cyrgai zwar beeindruckend aussahen, daß ihre Ausbildung im Laufe der Jahrhunderte aber so in Ritualen erstarrt und wirklichkeitsfern geworden war, daß es eher eine Art Tanz glich, als der Vorbereitung auf eine bewaffnete Auseinandersetzung. Da die Cyrgai die Grenze nicht überschreiten konnten, die der styrische Fluch gezogen hatte, waren sie seit zehntausend Jahren nicht mehr in einen richtigen Kampf verwickelt gewesen und daher hoffnungslos unvorbereitet auf sämtliche gemeinen kleinen Kniffe, zu denen es im Nahkampf von Zeit zu Zeit unweigerlich kommt.
»Ich verstehe immer noch nicht, wie wir das durchziehen wollen«, keuchte Talen, während er einen reglosen Wächter zurück in den Schatten zog. »Ein Blick wird den Torwächtern zeigen, daß wir keine Cyrgai sind.«
»Das haben wir bereits besprochen, während du die Lage ausgekundschaftet hast«, entgegnete Sperber. »Xanetia und Aphrael werden ihre Zauber vereinen, so wie die Anarae und Sephrenia es in Matherion getan haben. Dann werden wir so sehr wie Cyrgai aussehen, daß man uns durchs Tor läßt – erst recht, wenn die übrigen Cyrgai so große Angst vor diesen Tempelwächtern haben, wie Xanetia gesagt hat.« »Da dieses Thema gerade zur Sprache kommt«, warf Kalten ein, »sollt ihr wissen, daß ich mein eigenes Gesicht zurückhaben will, sobald wir uns an diesen Torwächtern vorbeigeschwindelt haben! Die Wahrscheinlichkeit, daß wir heute nacht den Heldentod sterben, ist groß, und ich möchte meinen eigenen Namen auf dem Grabstein! Und sollten wir durch einen glücklichen Zufall doch Erfolg haben, will ich Alean nicht erschrecken, wenn ich mich ihr mit dem Gesicht eines Fremden nähere. Nach allem, was sie durchgemacht hat, steht ihr zu, mein richtiges Ich zu bewundern.«
»Ich habe nichts dagegen einzuwenden«, erklärte Sperber sich einverstanden.
30
Hauptmann Jodral kehrte kurz nach Anbruch der Dunkelheit zurück. Seine wallende Robe flatterte; er hatte die Augen angstvoll aufgerissen und peitschte verzweifelt auf sein Pferd ein. »Wir sind verloren, mein General!« kreischte er.
»Reißt Euch zusammen, Jodral!« schnaubte General Piras. »Was habt Ihr gesehen?«
»Es sind Millionen und Abermillionen, General!« keuchte Jodral, immer noch von Entsetzen erfüllt.
»Jodral, Ihr habt in Eurem ganzen Leben noch nie Millionen von irgend etwas gesehen! Also – was ist da draußen?«
»Sie kommen über die Sarna, General!« Jodral gab sich alle Mühe, seine Stimme zu beruhigen. »Die Kundschafterberichte über diese Flotte stimmen. Ich habe die Schiffe gesehen!«
»Wo? Die Küste ist dreißig Meilen entfernt!«
»Sie sind die Sarna hinaufgesegelt, General Piras! Sie haben ihre Schiffe Seite an Seite zusammengebunden, um
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