Tamuli 3 - Das Verborgene Land
sich alles.
Schaue in dein Inneres, Anakha: Du bist mein Sohn, und ich habe dich zum Gefäß meines Willens gemacht. Ich übertrage diesen Willen nun dir, auf daß du der Streiter dieser Welt sein mögest. Spüre, wie seine Macht dich erfüllt!
Es war, als öffnete sich eine Tür, die bisher immer verschlossen gewesen war. Sperber spürte, wie sein Wille und sein Geist ins Unendliche wuchsen, und eine unbeschreibliche Ruhe überkam ihn.
Nun bist du wahrlich Anakha, mein Sohn, frohlockte Bhelliom. Dein Wille ist jetzt mein Wille. Nun ist dir alles möglich. Es war dein Wille, der Azash bezwang. Ich war nur dein Werkzeug. Jetzt aber wirst du meines sein! Setze deinen unbezwingbaren Willen für die Aufgabe ein. Nimm ihn in die Hände und forme ihn. Schmiede Waffen mit deinem Geist und stelle dich Cyrgon entgegen. Wenn dein Herz rein ist, kann er dir nichts anhaben. Geh jetzt! Cyrgon wartet auf dich.
Sperber holte tief Atem und blickte hinunter auf den nun von Trümmern übersäten Platz. Die Flamme, die aus der Ruine aufgestiegen war, hatte sich zu einer leuchtenden menschlichen Gestalt verdichtet, die vor der Tempelruine stand. »Komm, Anakha!« donnerte sie. »Unser Zweikampf wurde schon vor Anbeginn der Zeit vorhergesagt! Dies ist deine Bestimmung! Dir wird die unübertreffliche Ehre zuteil, durch meine Hand den Heldentod zu sterben.«
Mit voller Absicht enthielt Sperber sich der bombastischen Schwülstigkeit, auf archaische Art zu reden. »Feiere den Sieg nicht, bevor du ihn in der Tasche hast, Cyrgon!« erwiderte er. »Lauf nicht fort, ich bin gleich bei dir!« Dann stemmte er eine Hand auf die Brustwehr und schwang sich darüber.
Mitten in der Luft blieb er hängen. »Laß los, Aphrael!« stieß er hervor.
»Was tust du?« rief sie.
»Nun mach schon! Tu, was ich sage! Laß los!«
»Du wirst fallen!«
»Nein, werde ich nicht. Ich weiß, was ich tue. Misch dich nicht ein! Cyrgon wartet auf mich, also laß mich bitte los!«
Es war kein richtiges Fliegen, wenngleich Sperber sicher war, daß er könnte, wenn es erforderlich gewesen wäre. Er verspürte eine eigentümliche Leichtheit, während er zu der Ruine des Hauses von Cyrgon schwebte. Er war nicht schwerelos; es war eher so, daß sein Gewicht keine Bedeutung mehr hatte. Sein Wille triumphierte über die Schwerkraft. Mit dem Schwert in der Faust schwebte er wie ein Racheengel in die Tiefe.
Cyrgon wartete unten. Die brennende Gestalt des antiken Gottes zog sein Feuer um sich und ließ die weißglühende Flamme zur antiken Rüstung erstarren, wie sie ansonsten von seinen Anbetern getragen wurde: glänzender stählerner Harnisch, Kammhelm, großer Brustschild und ein Schwert in der Hand.
Während Sperber in die Tiefe schwebte, kam ihm eine seltsame Erkenntnis. Cyrgon war nicht unbedingt dumm, er hielt bloß hartnäckig an den alten Überlieferungen fest. Es war die Veränderung, die er haßte, die er fürchtete. Deshalb hatte er seine Cyrgai auf ewig in der Zeit erstarren lassen und aus ihren Köpfen jegliche Möglichkeit getilgt, Veränderungen vorzunehmen oder Neuerungen zu ersinnen. Unberührt vom Fluß der Zeit würden die Cyrgai für immer so bleiben, wie ihr Gott sie einst in die Welt gesetzt hatte. Dieserart hatte Cyrgon nach seiner Vorstellung ein Ideal geschaffen, hatte den Cyrgai seine Vorliebe für Rituale und seine Abneigung gegen Veränderungen aufgezwungen – und hatte sie derart in alten Bräuchen erstarren lassen, daß sie dem Untergang geweiht waren, seit der erste Cyrgai den Fuß auf die sich ständig wandelnde Welt gesetzt hatte.
Sperber lächelte schwach. Cyrgon brauchte ganz offensichtlich Unterricht, was die Vorteile von Veränderungen betraf, und seine erste Lektion war eine Einführung in die Vorzüge moderner Ausrüstung, Bewaffnung und Taktik. Sperber dachte: Panzer, und steckte augenblicklich in einer schwarz emaillierten Plattenrüstung. Gleichmütig entledigte er sich seines schlichten Alltagsschwerts, und schon hielt er seine schwerere und längere Paradeklinge in der Faust. Jetzt war er ein vollständig gerüsteter pandionischer Ritter, ein Soldat Gottes – mehrerer Gottheiten, verbesserte er diesen Gedanken ein wenig verlegen. Und zwangsläufig war er nicht nur der Streiter seiner Königin, seiner Kirche und seines Gottes, sondern auch – wenn er Bhellioms Gedanken richtig deutete – seiner schönen und mitunter eitlen Schwester, der Welt.
Er schwebte weiter in die Tiefe und landete zwischen den Trümmern des zerstörten
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