Tango Vitale
schon! Ich bring sie Ihnen!«, ruft eine Stimme von unten. Der freundlich ausschauende junge Mann muss offenbar schon vor Kelly im Treppenhaus gewesen sein. Als er ihre Tüten sieht, sagt er: »Das ist doch viel zu schwer für Sie. Warten Sie, ich helfe Ihnen. In welchen Stock müssen Sie?« Kelly wehrt ab: »In den vierten, aber ich brauche wirklich keine Hilfe.« Doch der junge Mann will davon nichts wissen. »Ich muss auch in den vierten Stock, und ich bin schon spät dran. |121| Ist nicht meine Schuld, meine Uhr ist kaputt.« Kelly will ihm zunächst die Tüte nicht überlassen. »Nein wirklich, das ist nicht nötig, vielen Dank.« Die Hand noch immer auf der Tüte, kontert er: »Man kann auch zu stolz sein, wissen Sie?« Schließlich willigt sie ein und überlässt ihm die Tüte. »Wir sollten uns beeilen«, sagt ihr Helfer, »da oben wartet eine hungrige Katze.« Obwohl er im Augenblick nichts anderes zu wollen scheint, als ihr zu helfen, beschleicht Kelly ein ungutes Gefühl. Aber er ist freundlich und ritterlich, und sie ist ein wenig beschämt, dass sie ihm misstraut. Sie geht auf ihre Wohnungstür zu. »Wussten Sie, dass eine Katze drei Wochen ohne Futter überlebt?«, fragt der junge Mann. »Ich weiß das, weil ich mal einem Freund versprochen habe, seine Katze zu füttern, während er verreist war, und ich habe es vergessen.« Kelly schließt die Wohnungstür auf. »Vielen Dank, ich nehme jetzt die Sachen«, sagt sie und hofft, dass er ihr die Tüten gibt und sich verabschiedet. Stattdessen sagt er: »Aber nein, ich bin doch nicht so weit mitgekommen, damit Sie hier noch einmal Katzenfutter-Dosen herumstreuen. Ich bringe sie Ihnen hinein.« Als sie zögert, lacht er verständnisvoll: »Wir können die Tür offen lassen. Ich setze nur die Sachen hier ab und gehe gleich wieder. Versprochen.« Kelly lässt ihn in ihre Wohnung. Er hält sein Versprechen nicht, quält und vergewaltigt sie stundenlang.
Wie Kelly inzwischen weiß, war sie nicht sein erstes Opfer, eine andere Frau hat er mit Messerstichen getötet. Zum Glück konnte sie entkommen. De Becker, dem Kelly die Geschichte erzählt, geht mit ihr die Geschehnisse im Treppenhaus noch einmal Schritt für Schritt durch. Allmählich erkennt sie, dass sie in diese lebensgefährliche Situation geraten ist, weil sie von Anfang an wichtige Signale übersehen hat.
Der Fachmann für Gewaltprävention hat es schon häufig erlebt, dass sich Opfer rückwirkend sehr wohl an Details erinnern, die sie hätten warnen können. Warum haben sie nicht darauf gehört? Weil sie diese Signale verleugnet und missachtet haben. Manchmal sollten wir |122| besser kritisch bleiben. Auch Kelly hat ihr intuitives Gefühl von Unbehagen übertönt.
Signale der Gefahr
De Becker hat eine Liste der häufigsten Anzeichen für eine Bedrohung zusammengestellt: 36
Erzwungene Gemeinsamkeit. Indem sie ein gemeinsames Ziel oder eine gemeinsame Erfahrung vorgeben, bringen Kriminelle ihre Opfer dazu, ihnen zu vertrauen. Mit dem Wörtchen »wir« stellen sie eine Nähe her, die in Wirklichkeit gar nicht existiert: Wie bei Kelly: »Wir sollten uns beeilen, da oben wartet eine hungrige Katze.« Es ist schwer, diese künstliche »Wir-sitzen-im-selben-Boot«-Haltung zurückzuweisen, ohne sich unhöflich vorzukommen.
Charme und Nettigkeit. Menschen, die andere dominieren wollen, präsentieren sich zu Anfang meist besonders freundlich. Diese Art der Liebenswürdigkeit ist jedoch keine echte Eigenschaft, sondern Strategie. Mit Charme lässt sich das Opfer bannen und kontrollieren. Um herauszufinden, ob es sich um eine Manipulation handelt, sollte man dem Charmeur genau ins Gesicht schauen. Darin lassen sich feinste Gefühlsnuancen ablesen, die meist die wahre Absicht entlarven, wie etwa kalte Augen über einem liebenswürdigen Lächeln.
Zu viele Details. Wer die Wahrheit sagt, kommt gar nicht auf die Idee, dass man daran zweifeln könnte. Dagegen fürchten Menschen, die etwas verbergen wollen, dass ihre Geschichte nicht schlüssig klingt und erzählen mehr als nötig. Ihr Ziel ist es, vom Wesentlichen abzulenken: dem geplanten Verbrechen. In Kellys Fall findet sich das in der Bemerkung mit der kaputten Uhr und der hungrigen Katze des Freundes.
|123| Rollenfestlegung. Der Trick besteht darin, jemanden in abschätziger Weise zu typisieren. Automatisch wird er sich herausgefordert fühlen, das Gegenteil zu beweisen – und hängt damit am Angelhaken. »Sie haben wohl etwas gegen
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