Tango Vitale
direkt hinter dem Brauenbogen, er liegt an der Schnittstelle zwischen dem obersten Teil der emotionsverarbeitenden Zentren und dem untersten Teil der für das Denken zuständigen Gehirnregion. Dabei verbindet er drei wichtige Areale miteinander: den Kortex, unser denkendes Gehirn, die Amygdala, welche die meisten Gefühle auslöst, und das Reptiliengehirn, zuständig für automatisch ablaufende Reaktionen. Dieser »Dreierstecker« ermöglicht eine außerordentlich |141| schnelle Koordination von Gedanken, Gefühlen und Handlungen.
Sobald sich zwei Personen anschauen, treten ihre orbitofrontalen Kortizes miteinander in Verbindung. Schon beim ersten Blickkontakt wissen wir, was wir für jemanden empfinden, ob wir ihn mögen, ablehnen oder ob er uns gleichgültig ist. Wir registrieren, wie er uns wahrnimmt, und entscheiden, wie wir uns im Einklang mit seiner Reaktion verhalten wollen.
Einen wichtigen Anteil an dem informellen Austausch haben auch die sogenannten Spiegelneuronen. Die Entdeckung dieser speziellen Art der Nervenzellen im Jahre 1995 durch den italienischen Neurowissenschaftler Giacomo Rizzolatti war eine echte Sensation. Wir wissen heute: Spiegelneuronen sorgen dafür, dass Gefühle ansteckend wirken. Sie lösen in uns den Impuls aus, das beim anderen beobachtete Verhalten nachzuahmen. Ist er bedrückt, fühlen wie uns ähnlich. Ist er aggressiv, reagieren wir wütend. Goleman drückt es poetisch aus: »Indem die Spiegelneuronen eine Brücke zwischen individuellen Gehirnen schlagen, erschaffen sie ein lautloses Duett, das ebenso subtile wie wirkungsvolle Austauschprozesse ermöglicht.« 42
Und das geschieht blitzschnell. In einem Experiment für eine amerikanische Studie sollten Studenten innerhalb von drei bis zehn Minuten jeweils einen ihnen unbekannten Kommilitonen danach beurteilen, ob sie sich mit ihm anfreunden würden oder ob es bei einer flüchtigen Bekanntschaft bleiben würde. Zwei Monate später zeigte sich, dass sie auf der Basis ihres ersten Eindrucks erstaunlich gut vorhergesagt hatten, wie sich die Beziehung tatsächlich entwickelte. Dabei wäre dazu nicht einmal die Zeitvorgabe von mehreren Minuten nötig gewesen. Wenn wir jemanden kennenlernen, beginnt die Entscheidung, ob wir ihn mögen oder nicht schon im ersten Drittel einer Sekunde. Noch bevor wir mit Worten beschreiben können, wie wir den anderen wahrnehmen, haben wir bereits unser Urteil gefällt.
|142| Warum wir bekommen, was wir erwarten
Hier liegt also des Rätsels Lösung, warum wir meist gemäß unseren eigenen Erwartungen behandelt werden: Unsere Mitmenschen nehmen unbewusst unsere heimliche Einstellung auf und reagieren entsprechend.
Der Vorgang ist recht einfach zu erklären: Was wir über uns selbst, über andere oder eine Situation denken, beeinflusst unsere Haltung, Gestik und Mimik, unsere Tonlage, die Wahl unserer Worte und unsere Handlungen. Dank des hervorragend funktionierenden Verarbeitungssystems im Gehirn entschlüsselt unser Gegenüber die Botschaft und verhält sich passend.
Das gilt auch, wenn wir uns bemühen, anders zu erscheinen, etwa uns sicher geben, obwohl wir ängstlich sind. Unsere tatsächliche Einstellung hat einen weitaus stärkeren Einfluss als der bewusste Auftritt. Paul Ekman, Psychologieprofessor an der University of California, hat nachgewiesen, dass unsere Gedanken, Gefühle und Absichten verräterische Indizien in unserem Ausdruck hinterlassen, selbst wenn wir es gar nicht wollen. Ekman bezeichnet das als »Mikroausdrücke«, bei denen es sich um eine Veränderung in Mimik und Gestik handelt, die in Bruchteilen von Sekunden aufblitzt und unserem Gegenüber die Wahrheit über uns verrät.
Pokerspieler und Mentalisten, professionelle Gedankenleser, nutzen diese Tatsache übrigens ganz bewusst. Wie präzise sie funktioniert, vermittle auch ich gelegentlich beim Coaching in meiner Praxis.
Annette, Redakteurin im Kosmetikressort einer Frauenzeitschrift, ist Expertin für Schönheit, Gesundheit und Fitness und liebt ihren Job. Seit einigen Wochen allerdings macht ihr die Arbeit wenig Freude. Sie hat eine neue Ressortleiterin, die deutlich mehr Ehrgeiz als Fachwissen zeigt. Bisher hat sich Annette alle Mühe gegeben, diplomatisch zu sein und ihre Vorgesetzte nicht spüren zu lassen, dass sie sie für unfähig |143| hält. Sie hat auf Kritik verzichtet, ihre Vorschläge gelobt, sie um ihre Meinung gebeten. Ohne Erfolg. Ihre Chefin meidet sie und arbeitet deutlich lieber mit anderen
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