Tante Dimity und der skrupellose Erpresser
zu ihm gehen und ihm besänftigende Worte ins Ohr säuseln müssen.
Stattdessen stellte ich mein Glas ab und sagte streng: »Seien Sie kein Narr.«
Simon wandte das Gesicht ab, als hätte ich ihn geschlagen, aber ich sprach einfach weiter.
»So wie ich Ihren Onkel hier kennen gelernt habe, muss er schon seit längerem mit der Gefahr eines Herzanfalls gelebt haben. Wenn ihm die Drohbriefe den Rest gaben, liegt die Schuld bei dem Wahnsinnigen, der sie geschrieben hat, und nicht bei Ihnen. Sehen Sie mich an, Simon.«
Er hielt den Blick noch immer abgewandt. Ich stand auf und baute mich vor ihm auf. Sein Kopf blieb gesenkt.
»Nells Unfall war … eben ein Unfall«, beharrte ich. »Wenn Sie glauben, Sie hätten die Kontrolle über Leben und Tod, maßen Sie sich viel zu viel an. Sie sehen vielleicht aus wie ein Gott, Simon, aber Sie sind nicht Gott. Diese Art von Macht besitzen Sie nicht.«
Er schloss die Augen. »Für Sie ist es einfach
…«
»Nein, es ist nicht einfach«, gab ich zurück.
»Aber ich kann Sie verstehen. Als meine Mutter starb, trieben mich meine Schuldgefühle derart um, dass ich nicht mehr leben wollte, und wenn Sie glauben, dass ich zusehen werde, wie sich ein Freund auf den gleichen Weg begibt, irren Sie sich gewaltig. Hören Sie endlich auf, meine Zeit mit diesem selbstsüchtigen Unsinn zu vergeuden.
Wir haben einiges zu tun.«
Jetzt erst sah Simon zu mir auf. »Sie haben etwas gefunden?«
»Allerdings.« Ich reichte ihm meine Hand.
»Kommen Sie mit ins Kinderzimmer.«
Das Papier und der Klebstoff lagen noch immer im Spielzeugschrank, und die malträtierten Bü cher standen in Reih und Glied. Der Briefschreiber hatte es noch nicht für nötig befunden, seine Spuren zu verwischen.
Als ich Simon von dem goldenen Haar erzählte, das ich in Romney , der Retter gefunden hatte, schüttelte er sofort den Kopf und wiederholte fast wörtlich die Einwände Dimitys gegen meinen Verdacht bezüglich Nell.
Er verteidigte seine Nichte derart vehement, dass ich es für besser hielt, Dimitys Mutmaßungen über Oliver für mich zu behalten, bis ich meinen sensationellsten Fund präsentiert hatte.
»Ich habe das hier zwischen Papier und Klebstoff entdeckt«, sagte ich und zeigte ihm das Rasiermesser mit dem Wappen der Elstyns. »Ich bin sicher, dass damit die Buchstaben für die Drohbriefe ausgeschnitten wurden.«
Simon zog die Augen zusammen. Er nahm das Rasiermesser und drehte es hin und her.
»Es gehörte Onkel Edwin«, sagte er und fuhr mit dem Daumen über das Schildpatt. »Ich erinnere mich daran, wie er sich mit so einem Ding rasierte, als ich noch sehr klein war, aber schon als ich zur Schule ging, hat er diese gefährlichen Klingen nicht mehr benutzt.«
»Was hat er damit gemacht?«, fragte ich.
Simon sank auf die Bank am Fenster und dachte angestrengt nach. »Er hat sie seinem Kammerdiener geschenkt, damals, vor vielen Jahren, als er noch einen hatte … sein Name war Chambers. Der Onkel hat ihm einiges überlassen
– Hüte, Anzüge … und eben auch Rasiermesser.«
Ich seufzte erleichtert auf. Ein unbekannter Kammerdiener war mir als Verdächtiger beträchtlich lieber als ein Bruder, der es im Grunde nur gut meinte.
»Hatte Chambers etwas gegen Sie?«, fragte ich.
»Nein«, antwortete Simon. »Er mochte uns alle, und wir mochten ihn. An seinen freien Tagen ist er mit mir, Oliver und Derek sogar zum Angeln gegangen. Wir waren zutiefst enttäuscht, als er uns verließ.«
Mein Blick wanderte zu den Muscheln und den Vogelnestern auf dem Regal hinauf. »Warum ist er gegangen?«
»Wenn ich mich recht entsinne, wurde ein Jahr nach dem Tod meiner Tante das Personal reduziert«, antwortete Simon. »Der Gürtel sollte enger geschnallt werden. Chambers war nicht der Einzige, der entlassen wurde.«
»Aber er war der Einzige, der das Rasiermesser Ihres Onkels mitgenommen hat«, sagte ich und ging zum Schaukelpferd hinüber. Ich erinnerte mich vage an etwas, das jemand vor kurzem gesagt hatte, aber ich kam nicht darauf.
»Hat Ihr Onkel vor vier Monaten neue Dienstboten eingestellt?«
»Ich habe keine Ahnung. Giddings ist für alle Personalfragen zuständig.« Simon legte die Hand auf die Seite und veränderte ächzend seine Sitzhaltung. »Warum fragen Sie?«
»Die ersten Drohbriefe, die Sie erhalten haben, vor vier Monaten, sehen doch genauso aus wie diejenigen, die Sie hier bekommen haben, stimmt’s?«
»Ja.« Nachdenklich schaute Simon zum Bü cherregal. »Die Buchstaben sind
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