Tante Dimity und der unerhoerte Skandal
strahlte Kompetenz und ruhige Autorität aus, aber ihr Gesicht wirkte so blass und müde, als ob sie schon lange nicht mehr an die frische Luft gekommen sei. Ich hatte den Verdacht, dass sie und nicht der zerstreute Arthur die Last der Verantwortung für die Firma trug. Sie musste Geralds Fehler für gravierend gehalten haben, dass sie ihn gehen ließ, wohl wissend, welch unzuverlässige Truppen sie zur Verfügung hatte.
Lucys Büro war so ordentlich wie Arthurs chaotisch war. Die Wände waren hellblau, auf dem Boden lag ein AubussonTeppich, und hinter einem makellosen Schreibtisch aus Walnussholz zog sich ein peinlich aufgeräumter Bücherschrank mit Glastüren entlang. Nirgends war ein Stapel Papier oder auch nur ein verirrter Dokumentenkasten zu sehen.
Die Stuckdecke war die gleiche wie in Arthurs Bü ro, hier jedoch glänzten die Arabesken in Gold und die hohen Fenster an der Rückwand trugen lange Vorhänge aus einem leichten weißen Stoff. An der gegenüberliegenden Wand war ein wunderschöner neoklassizistischer Kamin, der von goldgeadertem Marmor umrahmt war. Über dem Sims hing ein Ölgemälde aus dem siebzehnten Jahrhundert, das Porträt einer Frau mit ovalem Gesicht und pummeligen Schultern, die ein blausilbernes Seidenkleid mit weiten Ärmeln trug. Vor dem Kamin standen einladend eine Sesselgruppe und eine Couch aus Satinholz, aber Lucy geleitete uns zu zwei Stühlen vor ihrem Schreibtisch, hinter dem sie Platz nahm.
»Womit kann ich Ihnen dienen?«, fragte sie, indem sie einen Füllfederhalter und ein in Leder gebundenes Notizbuch in die Hand nahm.
» Alors , Mademoiselle Willis … «, fing Nell an.
»Halt.« Ich schnitt Nell das Wort ab. Seit wir diesen Trick bei Gerald in Haslemere angewandt hatten, plagte mich ein schlechtes Gewissen. Ich schämte mich und mir war plötzlich klar, dass ich nicht die Absicht hatte, auf unserer gesamten Reise jemanden zu verkörpern, der ich nicht war.
Lucy sah Nell ziemlich streng an, als wolle sie sie dafür rügen, dass sie wertvolle Zeit vertan hatte, aber sobald ich uns vorgestellt hatte, leuchteten ihre Augen freudig auf.
»Wie schön«, sagte sie. »Vetter William sagte mir, dass Sie in England sind, aber ich wusste nicht, dass Sie nach London kommen würden.«
»Wir sind erst heute früh angekommen«, erwiderte ich.
»Nachdem Sie Vetter William vorausgeschickt hatten, um zu sehen, wie die Lage ist?« Lucy schüttelte den Kopf. »Ich wollte diesen alten Streit schon lange begraben, aber« – sie rieb sich den Sattel ihrer Nase und seufzte müde – »ich komme nicht mehr viel zum Reisen. Ich muss gestehen, dass ich sehr froh bin, dass Vetter William die Initiative ergriffen hat. Man kann nie zu viel Familie haben.«
Warte, bis du Honoria und Charlotte kennen lernst, dachte ich. Laut sagte ich: »Da stimme ich völlig zu. Nell und ich haben zuerst Gerald besucht und …«
»Sie haben auch mit Gerald gesprochen?«, fragte Lucy und legte den Füllhalter hin.
Ich nickte. »Wir waren gestern bei ihm zu Haus.«
»Drei Besucher an einem Tag?«, sagte Lucy leicht süffisant. »Das ist ja ganz unglaublich. Das Letzte, was ich hörte, war, dass er ein echter Einsiedler geworden ist.« Sie sah eingehend auf ihre Fingerspitzen, ehe sie zögernd fragte: »Wie geht es ihm? Ich hoffe, gut?«
Für einen kurzen Moment war ich wieder auf dem schmalen Fußweg, atemlos von Geralds Umarmung, meine Hände an seine feste, breite und zweifellos gesunde Brust gedrückt. »Es schien ihm sehr gut zu gehen«, murmelte ich.
»Er katalogisiert eine Sammlung sakraler Gegenstände«, fügte Nell mit einem Blick auf mich hinzu. »Reliquiare – und solche Sachen. Wunderschöne Stücke. Auch ziemlich wertvoll, vermute ich.«
»Die Sammlung seines Vaters«, sagte Lucy und nickte. »Onkel Tom hat die meisten Stücke nach dem Krieg billig kaufen können, aber er hat nie Zeit gehabt, Ordnung in die Sammlung zu bringen.
Deshalb macht Gerald es jetzt. Mein Onkel ist krank, wissen Sie, und Gerald hat in letzter Zeit die nötige Muße dafür.« Lucy schloss ihr Notizbuch und legte es in die Schublade. »Ich hoffe, Sie haben Zeit für eine Tasse Tee«, sagte sie. Ihr Lä cheln war zurückgekehrt.
»Das hängt davon ab, ob Sie mir sagen können, wohin mein Schwiegervater fahren wollte, als er Sie verließ. Ich muss dringend mit ihm reden, aber ich weiß nicht, wo ich ihn suchen soll.«
»Es tut mir Leid«, sagte Lucy, »aber er hat uns nicht gesagt, wo er hinfahren will. Hat er kein
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