Tante Dimity und der unerhoerte Skandal
sie an Bill weiter, der auch einen Schluck nahm. Bill bot sie mir ebenfalls an, und als ich abwehrte, stellte er sie auf ein Tischchen.
»Bitte entschuldigt«, sagte Gerald. »So hätte ich euch wohl nicht damit überraschen sollen.«
»Es hat dir offenbar schon lange zu schaffen gemacht«, sagte Willis senior.
Gerald ließ wieder dieses schluchzende Lachen hören, unterdrückte es jedoch schnell und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. »Ich habe die Kiste nicht mehr angeschaut, seit ich …« Er berührte sie mit den Fingerspitzen. »Komisch, wie sie einen nach Jahrhunderten immer noch berührt.
Aber sie war so jung, und sie starb auf so grauenvolle Weise.«
Ich drückte Nell Bertie in den Arm und nahm ihre kalten Hände in meine, um sie zu wärmen.
Wie erstarrt vor Grauen sah sie auf die Kiste, und ich gab Bill einen Wink, die Überreste von Sybella Willis hinauszuschaffen. Vorsichtig nahm er die Kiste vom Tisch und brachte sie aus dem Zimmer.
Sowie sie nicht mehr da war, schien Nell aufzutauen. Sie beugte sich vor und stöhnte leise: »Also deshalb dachte er, ich sei ein Gespenst …«
Als Gerald das hörte, sprang er auf. Erschrocken kniete er sich neben Nells Sessel. »Es tut mir schrecklich Leid, Nell, ich hätte das niemals …«
Nell hob den Kopf und sah ihn an. Ihre Augen waren trocken, aber sie war kreidebleich. »Sie muss richtig beerdigt werden«, sagte sie mit fester Stimme.
Gerald nickte heftig. »Ja, das habe ich auch schon gedacht. Ich wollte, dass sie neben ihrem Mann beerdigt wird, aber ich wusste nicht, wie ich es anstellen sollte …« Er verstummte und sah Willis senior an.
»Ich werde dafür sorgen«, versprach dieser.
»Sybella soll neben Lord William beerdigt werden.«
»Ich glaube, Nell hat genug«, sagte ich und rieb ihre Hände. »Vielleicht sollte sie mit Bertie in der Küche warten, bis wir mit der Geschichte fertig sind.«
»Nein.« Nell zog ihre Hand weg. »Ich gehe nicht raus. Es war nur … es kam so plötzlich. Ich hatte nicht erwartet …« Sie umklammerte Bertie.
»Ich möchte hören, was passiert ist. Sonst kann ich nicht einschlafen.«
»Aber Herzchen«, sagte ich und fuhr ihr übers Haar, »wenn du es hörst, kannst du wahrscheinlich erst recht nicht einschlafen.«
»Nein«, wiederholte sie fest. »Meine Träume wären viel schlimmer als alles, was Gerald uns erzählen könnte.«
Ich sah Willis senior an, und er nickte. Gerald holte die Decke, die Mrs Burweed für ihn gebracht hatte, und legte sie um Nells Schultern, dann setzte er sich wieder auf die Couch. Ich saß auf dem Schemel neben Nell, und wir warteten, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, bis Bill zurückkam.
Sowie sein Sohn wieder saß, brach Willis senior das Schweigen. »Auf unserer Seite des Atlantiks«, sagte er zu Gerald, »hatte man schon immer den Verdacht – obwohl es nie bewiesen werden konnte –, dass der Gründer unserer Familie von seiner Mutter und seinem Bruder verraten wurde. Lord William hat nie die Beschuldigung zurückgenommen, dass die beiden seine erste Frau Sybella ermordet hatten.«
»Das stimmt«, sagte Gerald. »Das Verhältnis zwischen Julia Louise und Lord William war vollkommen zerrüttet. Sie hasste ihn, und er muss sie zutiefst verachtet haben.«
»Sie muss Angst gehabt haben, dass er sie aus Sybellas Haus jagen würde«, sagte ich.
»Das hätte er bestimmt auch«, sagte Gerald.
»Und Julia Louise wusste es. Deshalb hat sie Sir Williston angestiftet, das Mädchen umzubringen.
Sie selbst hat sich um Lord Williams Deportation gekümmert. Sie ließ ihn betäuben und auf ein Schiff schmuggeln, das in die Kolonien fuhr. Ehe er noch halb über dem Atlantik war, war seine junge Frau im Bett erstickt worden. Sie haben ihre Leiche in den Gewölbekellern unter dem Haus Anne Elizabeth Court Nummer drei vergraben.«
»Aber wenn man sie dort begraben hat, wie kann sie dann …?« Ich sah Gerald unsicher an.
»Du hast sie doch nicht …?«
»Ich nicht«, sagte Gerald. »Sondern Sir Williston. Ich glaube, er hat Sybella wirklich geliebt, auf eine schreckliche, bizarre Art und Weise. Nach Julia Louises Tod hat er sie exhumiert und die sterblichen Überreste in eine Kiste getan. Er hat jeden Abend mit ihnen geredet, ehe er zu Bett ging.«
»Gerald«, sagte Nell, »woher weißt du das alles?«
»Sir Williston hat Tagebuch geführt«, erwiderte er. »Kannst du dir das vorstellen? Er hat jedes Wort aufgezeichnet, das er zu seiner geliebten Sybella gesagt
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