Tante Dimity und der verhaengnisvolle Brief
dass ich mich einfach nicht entscheiden kann. Und ich habe noch gar nicht mit den Bü chern angefangen.« Ich zögerte, dann packte ich den Stier bei den Hörnern. »Ich weiß, dass das eine sonderbare Bitte ist, Mr Moss, aber wären Sie damit einverstanden, wenn ich die Nacht hier verbringe? Ich bleibe so oder so in der Stadt – mein Mann will nicht, dass ich bei diesem schrecklichen Wetter heimfahre –, und wenn ich hier in der Wohnung bliebe, hätte ich mehr Zeit, mir die Sachen anzuschauen. Ich würde selbstverständlich das Gästezimmer benutzen und vor der Abreise alles sauber machen.«
Mit seiner prompten Antwort überraschte mich Mr Moss nicht wenig. »Ich habe keinerlei Einwände.«
»Großartig.« Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Gleichzeitig fiel mein Blick auf den zusammengeknüllten Papierball, den Hamish zu mir herübergepfeffert hatte, und ich bückte mich danach. »Mr Moss? Da wäre noch etwas, das ich Sie gern fragen würde, wenn es Ihnen nichts ausmacht
…«
»Ich stehe zu Ihrer Verfügung.«
»Ich habe mich ein bisschen umgesehen, und da ist mir aufgefallen, dass es hier nirgendwo schriftliche Unterlagen gibt. Persönliche Papiere, meine ich. Sie wissen schon: Briefe, Rechnungen, solche Dinge eben. Wissen Sie, wo sie sind?«
»Miss Beacham hat die meisten Dokumente weggeworfen und den Rest bei uns deponiert.«
»Hat sie auch ihre Familienfotos bei Ihnen hinterlegt?«, bohrte ich nach.
»Ich glaube, unter ihren Dokumenten befindet sich auch eine Reihe von Fotografien«, antwortete Mr Moss. »Sie werden auch keine Kleidungsstücke in der Wohnung meiner verstorbenen Mandantin finden, Mrs Shepherd. Miss Beacham hat ihre gesamte Kleidung einem Wohltätigkeitsladen gestiftet.«
»Und die Mäntel im vorderen Schrank?«, wollte ich wissen.
Mr Moss seufzte. »Es lässt sich nur vermuten, dass der Mann, der mit der Abholung beauftragt war, sie übersehen hat. Aber vielen Dank, Mrs Shepherd. Ich mache einen Vermerk.«
»Dann könnten Sie vielleicht auch einen Vermerk über die Lebensmitteldosen in den Küchenschränken machen«, regte ich hilfsbereit an. »Und über das Geschirr. Und die Putzmittel.«
»Es sind Vorbereitungen getroffen worden, diese Gegenstände einer karitativen Initiative in Oxford zu übereignen«, erklärte Mr Moss. »Die von der St.-Benedict’s-Gemeinde eingerichtete Stiftung für obdachlose Männer. Vielleicht haben Sie schon davon gehört.«
Einmal mehr wurde mir angesichts Miss Beachams Großzügigkeit warm ums Herz. »O ja, St. Benedict’s ist mir sehr wohl ein Begriff«, lächelte ich. »Dort wird man die Gaben Ihrer Mandantin sicher gut verwenden.«
»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Mrs Shepherd?«, erkundigte sich Mr Moss.
»Im Augenblick nicht. Danke, dass Sie mich in der Wohnung übernachten lassen. Ich rufe Sie an, sobald ich weiß, was ich mitnehme.«
»Bitte fühlen Sie sich frei, mich jederzeit zu kontaktieren. Wie ich vorhin sagte: Ich stehe Ihnen ganz zur Verfügung.«
Ich gab ihm noch meine Handynummer für den Fall, dass er mich erreichen musste, dann beendete ich das Gespräch und drehte den zerknüllten Papierball geistesabwesend in der Hand hin und her.
Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass meine Frage nach Miss Beachams Papieren töricht gewesen war.
Ich hätte mir doch denken können, warum ihre Wohnung so unnatürlich aufgeräumt war. Tante Dimity hatte mir den entscheidenden Hinweis gegeben, als sie schrieb: Sie wusste , dass sie dem Tod nahe war , und hatte Zeit , sich darauf vorzubereiten .
Miss Beacham musste klar gewesen sein, dass sie das Krankenhaus nicht mehr verlassen würde. Die wenigen letzten Wochen ihres Lebens hatte sie offenbar damit verbracht, ihre Ablagefächer zu leeren, den Schreibtisch aufzuräumen, die Bücherregale zu säubern – und alles Nötige für die Versteigerung ihrer Besitztümer zu regeln, die zehn Tage nach ihrem Tod stattfinden sollte. Eine Welle der Melancholie schlug über mir zusammen, als ich mir vorstellte, wie sie sich voller Elan und einsam auf ihre letzte Reise vorbereitete, doch bald wich die Trauer dem Zorn auf den Bruder, der zugelassen hatte, dass seine Schwester sich diesem Weg ganz allein stellen musste.
Ich warf den Papierball auf das Zylinderpult und drückte auf die Wahlwiederholungstaste meines Handys. Erneut wurde ich umgehend zu Mr Moss durchgestellt.
»Ich will Sie nicht belästigen«, entschuldigte ich mich, »aber eine Frage habe ich noch. Werden die Erlöse
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