Tante Inge haut ab
Also konnten sie auch damit machen, was sie wollten.
Der Zug hielt in Klanxbüll. Ein kleiner Junge warf erst seinen riesigen Schulranzen auf den Bahnsteig, dann kletterte er hinterher und nahm ihn anschließend mühsam wieder auf den schmalen Rücken. Er war wohl im seihen Alter wie Till. Und es sah so aus, als wenn er in Westerland zur Schule ging, aber nicht auf der Insel lebte. Jeden Tag musste er mit dem Zug fahren. Und das schon in dem Alter. Inge verspürte einen Stich, als sie daran dachte, dass es Till ja noch schlimmer traf. Er sollte die Schule wechseln. Und würde sein Umfeld verlieren, alle Freunde, Nachbarn, Lehrer ... Inge ballte ihre Hand zur Faust. Sie hatte Annas Haus geerbt, und Anika und Till würden mit einziehen, sie müssten nicht von der Insel weg, alles würde gut werden. Es musste gut werden.
Sie schraubte den Deckel ihrer Wasserflasche ab. Vielleicht war sie tatsächlich zu naiv gewesen. Aber was hätte sie auch machen sollen? Hätte sie zu Walter sagen sollen: »Du, ich habe das Haus von Anna Nissen geerbt. Da können wir doch jetzt hinziehen. Es hat vier Wohnungen, so dass wir uns die Nachbarn selbst aussuchen können. Und mein Heimweh wäre nach vierzig Jahren auch endlich weg.«
»Das ist doch dummes Zeug, Ingelein«, hätte er wahrscheinlich gesagt. »Alte Bäume soll man nicht mehr verpflanzen. Das wird schön verkauft, dann haben wir ordentlich was auf der Kante.«
Nein, bevor sie mit ihm darüber sprach, musste sich Inge erst darüber klar werden, was sie damit machen wollte. Eigentlich hatte Anika den Gedanken ausgelöst, eine Hausgemeinschaft zu gründen. Jung und alt zusammen. Sie stellte es sich so schön vor: Walter und sie unten in Annas alter Wohnung, daneben Anika und Till. Für die anderen beiden Wohnungen hatte sie auch schon einen Plan. Allerdings lag der erst mal auf Eis, wie überhaupt alles. Zumindest, bis sie wusste, ob ihr das Haus tatsächlich gehörte. Leider sah es im Moment nicht danach aus.
Sie hatte gestern Abend alles aufgeschrieben, was passiert war. Nicht einmal das hatte geholfen, das Durcheinander in ihrem Kopf war immer größer geworden. Gegen Mitternacht hatte sie entnervt ihre Notizen zerrissen und sich vorgenommen, am Morgen zum Gericht nach Niebüll zu fahren.
Und dahin war sie jetzt unterwegs. Sie hatte Annas Testament in einen Umschlag geschoben, hatte ihren Ausweis dabei und die Visitenkarte von Mark Kampmann und würde sich im Gericht durchfragen. Schließlich hatte Helga Gross gesagt, dass ihr Chef alle Anträge eingereicht hatte. Vielleicht würde sie in ein paar Stunden schon über ihre Verunsicherung und Martensens Verdächtigungen lachen. Vielleicht war ja alles nur ein einziges großes Missverständnis.
Inge war zu Fuß vom Bahnhof zum Gerichtsgebäude gelaufen, um ihre Nervosität in den Griff zu kriegen.
Als sie vor dem grauen Flachdachgebäude stand, verlor sie jedoch fast wieder den Mut. Sie wusste noch nicht mal, wo genau sie eigentlich fragen sollte. Sie atmete tief ein und drückte die schwere Tür auf. Im Foyer fand sie einen Raum mit dem Schild »Anmeldung« und klopfte. Nach einem Moment hörte sie eine Stimme: »Ja, bitte.«
Hinter einem Schreibtisch sah ein junger Mann vom Computer auf. »Guten Tag. Was kann ich für Sie tun?«
»Guten Tag«, antwortete Inge, die merkte, dass ihre Knie zitterten, »mein Name ist Inge Müller, ich habe ein Problem. Und ich weiß gar nicht, ob Sie mir dabei helfen können.« Auch ihre Stimme zitterte.
Der junge Mann betrachtete sie aufmerksam. Dann zeigte er auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Nehmen Sie bitte Platz. Worum geht es denn?«
Inge kramte nervös in ihrer Tasche und suchte den Umschlag. »Ich habe ein Testament bekommen. Von meiner alten Lehrerin. Schon vor ein paar Wochen. Und jetzt weiß ich nicht, ob das so in Ordnung ist ...« Ihre Stimme brach, das Zittern wurde schlimmer. Der junge Mann blickte sie besorgt an. »Möchten Sie vielleicht ein Glas Wasser?« Sie nickte er leichtert und versuchte, sich zu beruhigen, während der Mann in einen Nebenraum ging, eine Flasche und ein Glas holte und es ihr hinstellte. Er wartete ruhig ab, bis sie getrunken hatte.
»So, dann lassen Sie mal sehen, was Sie da haben.«
Inge reichte ihm den Umschlag mit dem Testament. »Da können wir Ihnen helfen. Damit müssen Sie aber zu meinem Kollegen in die Nachlassverwaltung. Zu Herrn Rupp.« Er gab ihr das Schreiben zurück und sah sie forschend an. »Soll ich Sie zu ihm
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