Tante Inge haut ab
auf dem handschriftlich eine Keitumer Adresse stand. »Hast du den von der Sekretärin ?«
»Nein.« Walter steckte den Brief wieder ein. »Der lag auf ihrem Schreibtisch. Da war so ein Chaos, das merkt die gar nicht. Ich habe einen Zettel über den Tisch geschnippt, da musste sie sich kurz mal bücken. Also, mein Schreibtisch sah aber anders aus. Das könnt ihr glauben.«
»Sehr gut.« Heinz wischte sich seinen Mund ab. »Kalli, dann hol doch noch eine Runde, und danach stöbern wir den Kerl in Keitum auf. Verstecken kann der sich vor uns nicht.«
Inge kam aufatmend aus dem Westerländer Bahnhof. Der Zug war brechend voll gewesen, mindestens drei Klassenfahrten, dazu die üblichen Pendler und Urlauber. Sie hatte zwar einen Sitzplatz bekommen, konnte ihre Beine aber nicht ausstrecken, weil um sie herum diverse Koffer und Rucksäcke verteilt waren. Dazu kam dieser Heidenlärm. Dafür hatte sie wenigstens keine Ruhe gehabt, sich den Kopf zu zerbrechen, wie alles weitergehen sollte.
Der Himmel war bedeckt, es sah nach Regen aus, sie hatte noch nicht mal einen Schirm dabei. Sie könnte mit dem Bus nach Kampen in die Pension fahren. Sie konnte auch die Friedrichstraße runterlaufen und irgendwo einen Kaffee trinken. Unentschlossen blieb Inge auf dem Bahnhofsvorplatz stehen. Und sah plötzlich Anikas roten Käfer auf den kleinen Parkplatz fahren. Die Beifahrertür ging auf, und eine junge Frau mit einem riesigen Blumenstrauß stieg aus. Inge erkannte sie, es war eine der Bedienungen der »Badezeit«. Anika ging um den Wagen herum und umarmte sie. Als ihre Kollegin zurücktrat, fiel Anikas Blick auf Inge. Sofort hob sie die Hand. »Inge! Einen Moment!«
Inge ging langsam auf sie zu und wartete, bis Anikas Kollegin nach einer weiteren Umarmung auf den Bahnsteig lief.
»Meine Kollegin Sabine«, sagte Anika und winkte ihr noch einmal hinterher, »sie muss auch aus ihrer Wohnung raus und zieht jetzt zu ihrem Freund nach Husum. Sie hatte heute ihren letzten Tag.« Sie wandte sich zu Inge. »Und du? Wo kommst du her?«
»Ich war in Niebüll. Beim Amtsgericht.«
»Oh ...«, fragend sah Anika sie an, »und?«
Seufzend lehnte Inge sich an den Wagen. »Es ist alles sehr eigenartig. Der nette Mensch von der Nachlassverwaltung hat mir gesagt, ohne Erbschein geht nichts. Der ist aber noch nicht da. Und dann hat er erzählt, dass es noch mehr ... wie hat er sich ausgedrückt? ... >Vorgänge< zu Annas Haus gibt. Das heißt, wahrscheinlich noch ein Testament. Und ich sollte mir einen Anwalt nehmen.«
»Du hast doch einen. Kampmann. Was sagt der denn dazu?«
Inge zuckte die Achseln. »Der ist krank. Und ich fürchte, er ist auch ein Teil des Problems. Aber das ist eine längere Geschichte. Jedenfalls brauche ich einen anderen Anwalt. Und ich muss mich unbedingt um diese Verwaltungsgesellschaft kümmern. Ach Anika, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.«
»Ich fahre dich jetzt nach Hause.« Entschlossen schob Anika Inge zur Beifahrertür. »Und dann rufe ich Jörn Tietjen an und verabrede mich mit ihm zum Essen. Gleich heute. Till schläft sowieso bei seinem Freund. Und beim Essen werde ich Jörn über seine Arbeitgeber ausfragen. Ich kriege was raus, Inge, das verspreche ich dir.«
Inge blieb so lange an der Haustür stehen, bis der rote Käfer um die Kurve verschwunden war. Dann stieg sie langsam die Treppe zu ihrem Apartment hoch. Auf dem Tisch lag noch die Visitenkarte von Martensen. Inge nahm sie nachdenklich in die Hand und ließ sich auf den Sessel sinken. Kurzentschlossen zog sie ihr Handy aus der Tasche. Nach nur einem Freizeichen meldete er sich.
»Martensen.«
»Hallo, Herr Martensen, hier ist Inge Müller.«
»Frau Müller!« Er klang erfreut. »Wie geht es Ihnen?«
»Es geht so«, erklärte Inge, »ich war heute beim Amtsgericht in Niebüll. Es gibt tatsächlich noch ein Testament, Sie hatten recht, irgendwas stimmt da nicht. Ich musste das Testament abgeben, sie haben mir aber eine Kopie gemacht, die schicke ich Ihnen noch.«
»Das ist nicht mehr nötig«, erwiderte Martensen, »das kann ich auch beim Amtsgericht einsehen. Wenn es sein muss. Ich hätte Sie übrigens auch gleich angerufen. Haben Sie noch was von Mark Kampmann gehört?«
»Nein«, antwortete Inge, »habe ich nicht. Er ist doch krank.«
»Er ist verschwunden«, korrigierte Martensen, »wir wollten ihn als Zeugen befragen. Wir haben drei Kollegen losgeschickt. Erfolglos. Er ist regelrecht untergetaucht. Wir haben keine Ahnung, wo er
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