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Tanz auf Glas

Tanz auf Glas

Titel: Tanz auf Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ka Hancock
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wieder Termine bei Gleason sausenließ und sein Umfeld nur hilflos zuschauen konnte, was mit ihm geschah. Irgendetwas würde garantiert passieren, denn er hatte seine Medikamente vor mir versteckt – also nahm er sie nach eigenem Gutdünken.
    Ich blickte in den Spiegel und seufzte. Mein Tag fühlte sich jetzt schon schwer an, dabei war ich gerade erst aufgestanden. Ich machte mich auf das »Nichts« gefasst, das ich unten vorfinden würde, und stieg die Treppe hinunter.
    Als ich die Küche sah, hätte ich weinen mögen. Anscheinend hatte Mickey mitten in der Nacht eine Gier auf Schokoladenplätzchen entwickelt. Mehl war auf dem Boden verstreut, und er war durchgelaufen – mehrmals. Er hatte ein paar Eier aufgeschlagen, aber die Schüssel nicht richtig getroffen, und eine Schleimspur war an der Schranktür darunter festgetrocknet. Obwohl der Vorratsbehälter mit Zucker noch voll war, hatte er eine neue Tüte geöffnet – wie es aussah, mit den Zähnen. Die Tüte war umgefallen, und vor der Spüle lag ein großer Haufen Zucker.
    Offensichtlich hatte er jede einzelne Schüssel benutzt, die wir besaßen, und auch unsere sämtlichen Backbleche standen bereit, mit Backfett beschmiert. Aber es gab keine Plätzchen, nur einen Berg Plätzchenteig, in dessen Gipfel ein hölzerner Kochlöffel steckte. Eine halbleere Schachtel Schokoraspel stand zwischen Stapeln von Zeitungen und herausgerissenen Magazinseiten auf dem Tisch. Textmarker, Klebstoff, Klebeband und Büroklammern waren überall verstreut. Auch ein billiger kleiner Hefter aus Pappe lag da. Ich schlug ihn auf und fand mindestens ein Dutzend Blätter, die beidseitig mit dem Wort »bitte« beschriftet waren. Mickey hatte das Wort zahllose Male ausgeschnitten und hier eingeklebt, immer wieder, bis alle Seiten vollständig damit bedeckt waren. »Bitte« in den verschiedensten Größen. Er hatte sogar den Einband eines Bilderbuchs für das Baby zerschnitten und das »bitte« aus dem Titel gestohlen.
    Es war mehr als unheimlich, in meiner chaotischen, verdreckten Küche zu sitzen und in die zerrissene Realität meines Mannes zu schauen. Ich befühlte die Seiten, mit denen er sich offensichtlich riesige Mühe gegeben hatte. Er hatte ihnen seine ganze Aufmerksamkeit gewidmet und sich nicht von irgendetwas anderem ablenken lassen, wie bei den Plätzchen. Er hatte das über zweiundzwanzig Seiten durchgehalten.
Bitte.
An wen hatte Mickey diese Botschaft gerichtet? An mich? Gott? Sich selbst? Bitte stirb nicht. Bitte hasse mich nicht. Bitte heile mich. Bitte hilf mir. Bitte mach meine Frau wieder gesund. Bitte lass das Baby abtreiben. Während ich versuchte, zu analysieren, was man nicht analysieren konnte, verschwamm das Meer aus »bitte« vor meinen Augen.
    Wie lange würde die Spirale diesmal dauern? Ich schämte mich, so darüber zu denken, aber ich musste darauf hoffen, dass die Zeit reichen würde. Es konnte drei Monate dauern, bis Mickey schließlich ganz abhob, und ebenso lange, um ihn wieder auf den Erdboden zurückzuholen. Wenn wir Glück hatten, blieb er danach mehrere Monate lang stabil, manchmal aber auch nur ein paar Wochen. Manchmal über ein Jahr lang.
    Ich ließ den Blick noch einmal durch die Küche schweifen und begrub den Kopf in den Händen. Diesmal war es mehr als Mickeys Erkrankung. Mit
der
konnte ich umgehen. Das Gewicht seiner zerbrochenen Hoffnung, das ihn in seiner Krankheit zusätzlich herabzog, machte mich so fertig. Diesmal reichte meine Liebe nicht, ganz gleich, wie sehr ich mich bemühte. Also wappnete ich mich für das, was kommen musste.

[home]
    21
    2 . September 2011
    I ch habe niemandem von meinen Alpträumen erzählt. Sie kommen, wenn ich wach bin, und danach bin ich ausgehöhlt, erschöpft und beschämt. In diesen Träumen bin ich verzweifelt, panisch und ganz allein. Gott hat Lucy zu sich geholt und bedauert den hinterbliebenen Irren, der sich allein nicht zurechtfindet. Ich renne, wie immer, und ich bin in meiner verzerrten Realität davon überzeugt, dass ich meine Frau finden werde – wo immer Gott sie versteckt haben mag. Ich werde Lucy finden und wieder heil und ganz sein.
    Und dann höre ich dieses leise Weinen, das scharf durch all den Lärm dringt. Sie erscheint plötzlich auf meinem Arm, winzig und vollkommen hilflos, und ich starre durch einen Schleier gequälter, wütender Tränen böse auf sie hinab. Ich glaube, ich könnte sie hassen – sie ist eine Diebin, sie hat ihrer Mutter das Leben geraubt. Mein Leben. Ich will

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