Tanz auf Glas
gegebenenfalls operieren, sobald das Baby geboren war. Bis dahin würde er meinen Zustand überwachen.
Charlotte verordnete mir Vitamine, frisch gepresste Säfte und Visualisierungen. Barer Unsinn, Priscilla zufolge, aber ich wusste genug über Ernährung, um mir darüber im Klaren zu sein, dass alles gut war, was die gesunden Zellen in meinem Körper stärkte. Außerdem fühlte ich mich nicht schlecht, also hatte ich daran nichts auszusetzen.
Charlottes Sprechzimmer wurde zu meiner Zuflucht, zum einzigen Ort, wo ich klar denken konnte. Dort studierte ich die harten Fakten, Statistiken, Forschungsergebnisse und erholte mich auf dem festen Boden der Tatsachen von der fließenden, wandelbaren Welt der Meinungen und Interpretationen meiner Familie.
Stundenlang wälzte ich die Fachzeitschriften, die sich in ihren Regalen aneinanderreihten, und recherchierte im Internet. Ich las alles, was ich über metastasierenden Brustkrebs in der Schwangerschaft fand. Bald kannte ich Fallstudien und Sterblichkeitsraten von Babys auswendig, die im Mutterleib dem Stress dieser Erkrankung ausgesetzt waren. Ich recherchierte Hormontherapien und die neuesten chemotherapeutischen Wirkstoffe auf der Suche nach einem, der meine Krankheit bekämpfen könnte, ohne meinem Baby zu schaden. Die Namen vieler dieser Zytotoxine kannte ich noch vom letzten Mal. Ich erfuhr, dass man ein paar davon in meiner Situation vorsichtig in Betracht ziehen konnte, doch keines galt als absolut ungefährlich für ein Ungeborenes. Über Trastuzumab, Gemcitabin, Doxorubicin und Paclitaxel las ich alles, was ich finden konnte. Ich lernte den Unterschied zwischen den Anthracyclinen und den Taxanen kennen, hielt den Atem an, wenn ich irgendwo im Cyberspace auf vielversprechende Studien traf, und stieß ihn dann enttäuscht wieder aus, wenn ich zu den möglichen Wirkungen auf einen Fötus kam. Manche Mittel galten als mit hoher Wahrscheinlichkeit ungefährlich, wenn sie in einem späten Stadium der Schwangerschaft verabreicht wurden. Doch letzten Endes traute ich einfach keinem Medikament, dessen Aufgabe darin bestand, mehr oder weniger willkürlich Zellen zu zerstören.
Während ich mich informierte, betete ich um ein Wunder. Ich wollte ja gar nichts unglaublich Großes. Nur ein bisschen mehr Zeit. Ich wollte eine gesunde kleine Tochter zur Welt bringen, sie im Arm halten, sie riechen und miterleben, wie mein Mickey reagierte, wenn er sie zum ersten Mal sah. Danach durften Charlotte und ihre Kollegen mir Infusionsnadeln in sämtliche Venen stecken. Sie konnten mich literweise mit krebsbekämpfendem Gift vollpumpen, mich auf einen Bratspieß binden und mit Bestrahlungen grillen, wenn sie meinten. All dem würde ich mich nicht verweigern – aber erst, wenn das Baby wohlbehalten auf die Welt gekommen war.
Bis dahin war ich entschlossen, so normal wie möglich zu leben. Obwohl ich viel Zeit damit verbrachte, an Charlottes Computer medizinische Recherchen zu betreiben, bereitete ich also auch meine Unterrichtspläne für das neue Schuljahr vor. Der Sommer war lang gewesen, und ich freute mich darauf, wieder an die Arbeit zu gehen, obwohl ich mir ein wenig Sorgen machte wegen meiner nachlassenden Energie. Ich führte ein offenes Gespräch mit meinem Schulleiter Douglas Bunnell, der natürlich auch schon von meiner Situation gehört hatte, aber trotzdem weinte, als ich sie ihm erklärte. Aber der Gute hatte eine wunderbare Idee: Miriam Brady stand kurz vor der Pensionierung und wollte nur noch in Teilzeit arbeiten. Er schlug vor, dass wir uns zusammentaten, und es war ihm gleichgültig, wie wir uns die Stunden einteilten, Hauptsache, der Unterricht fand statt. Miriam war es am liebsten, wenn wir uns wochenweise abwechselten, und das war für mich die perfekte Lösung.
Der bevorstehende Schulanfang fühlte sich herrlich normal an. Ich liebte ja meine Schüler und freute mich sehr darauf, in der zweiten Septemberwoche wieder den ganz normalen Schulalltag zu leben. Ich wollte so lange wie möglich arbeiten, doch selbst wenn ich gesund gewesen wäre, hätte ich nur bis zu den Weihnachtsferien unterrichten können, denn der Geburtstermin war der 3 . Januar. Was ich für eine wunderbare Einteilung hielt, wurde natürlich von meiner Familie schlechtgemacht, die der Ansicht war, dass ich überhaupt nichts tun sollte, außer mich auszuruhen.
Etwa eine Woche vor Schulbeginn sah Lily mein Auto vor Charlottes Praxis und kam auf einen Sprung herein – gerade rechtzeitig, um
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