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Tanz auf Glas

Tanz auf Glas

Titel: Tanz auf Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ka Hancock
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sie nicht. Ich will sie nicht wollen. Gott soll sie sich nehmen und mir meine Frau zurückgeben. Aus tiefster Seele brülle ich dieses hilflose Baby an, und mein Schrei ist so greifbar und laut, dass er den Himmel aufplatzen lässt und Splitter davon auf uns herabregnen, auf mich und meine Tochter. Wir beide bluten, und ich drücke sie fester an mich, panisch um Verzeihung flehend, doch sie blutet noch stärker. Sie braucht mich, und ich bin zutiefst beschämt und vollkommen unfähig, etwas zu tun. Ich lege es vorsichtig hin, dieses winzig kleine Mädchen, das mich ohne Berechnung, ohne Erwartungen anstarrt, ich kehre seiner Hilflosigkeit und seinem Vertrauen den Rücken und laufe davon. Ich renne so schnell, dass ich beinahe fliege, aber ich kann weder weit genug noch schnell genug noch lange genug laufen – ich höre sie immer noch.
    Ich brauche jedes Mal länger, um mich von diesem Alptraum zu erholen – und viel zu viele Tabletten, um ihn im Zaum zu halten. Selbst wenn ich glaube, diesem schrecklichen Erlebnis entkommen und in Sicherheit zu sein, verfolgt mich dennoch das Körnchen Wahrheit darin, das sich nicht verändert, ganz gleich, wie viele Pillen ich schlucke: Ich kann das nicht allein. Ich kann das nicht ohne meine Frau.
     
    Das Labor-Day-Wochenende wurde in Brinley schon immer groß gefeiert. Der Samstagvormittag beginnt mit der Parade der Kinder auf ihren geschmückten Fahrrädern, und die Blaskapelle der Midlothian Highschool marschiert unter misstönenden Blech- und Trommelklängen den Loop entlang. Den Festwagen und riesigen Luftballonfiguren folgt Brinleys ältestes Feuerwehrauto, von dem die Feuerwehrleute Bonbons in die Menge werfen. Danach gibt es ein sehr ernsthaft betriebenes Softball-Turnier im Pier Park. Um fünf Uhr schließlich wird das jährliche Kunstfestival im Hafen eröffnet, und dann ist es Zeit für den Höhepunkt dieses Tages: die Labor-Day-Regatta.
    Das ist unser ganz eigener zeremonieller Abschied vom Sommer, der Besucher aus der ganzen Umgebung anzieht. Als ich noch klein war, haben meine Mutter und Jan wochenlang an einem Festwagen gearbeitet, auf dem wir Kinder dann sitzen durften. Mein Dad in seiner Eigenschaft als Polizeichef sorgte mit einem großen Megaphon für Ordnung. Diese Erinnerung wird jedes Jahr wieder in mir wach.
    Ich hatte mit Priss ausgemacht, dass ich sie um halb elf abholen würde. Dann wollten wir zu Fuß in den Park hinübergehen. Ich fuhr bis zur Kreuzung Cascade, stellte den Wagen ab und ging die Foster Pear Road entlang zum Jachthafen. Meine wunderschöne Schwester saß auf dem Rumpf unseres Segelbootes und ließ die Beine über dem Wasser baumeln. Sie trug einen Leinenrock und ein enganliegendes Tanktop. Sie spähte über den Rand ihrer Sonnenbrille hinweg, als prüfe sie, wie es gerade mit uns beiden stand.
    »Hallo, Priss.«
    Sie warf einen kurzen Blick auf meinen Babybauch. Dann nickte sie, zog sich an der Reling hoch und kletterte von Bord. »Hallo.«
    Wir hatten uns seit dem Streit nicht mehr gesehen und auch nicht darüber gesprochen, obwohl wir seither ein paarmal miteinander telefoniert hatten, also tasteten wir uns jetzt sozusagen vorsichtig aneinander heran. Doch diese Zurückhaltung schmolz dahin, als Priss zu mir kam und mich fest umarmte. Dann ließ sie mich wieder los, und ich drückte ihre Hand. »Mir geht es gut, Priss. Ehrlich.«
    »Lügnerin«, krächzte sie.
    Unsere ersten gemeinsamen Minuten waren ein wenig hölzern, doch im Hafen wimmelte es von Leuten, was uns rasch über den steifen Anfang hinweghalf. Es war ein herrlicher, klarer Septembertag, der Temperaturen über fünfundzwanzig Grad versprach. Der Himmel war wolkenlos, und es wehte nur eine sanfte Brise, gerade genug, um einen daran zu erinnern, wie nahe wir dem Meer waren.
    Im Moment wurde die Soundanlage der Bühne getestet, auf der heute und morgen alle möglichen Auftritte stattfinden sollten. Wir spazierten durch die Berge von Kisten und Tischen und Paletten und Segeltüchern, die gerade in Verkaufsstände verwandelt wurden. Priscilla verschränkte die Finger mit meinen und drückte sie.
    »Es tut mir leid, Lucy. Ich hätte dir keine Vorschriften darüber machen sollen, wie du dein Leben zu leben hast.«
    »Ist schon gut«, sagte ich. Offen gestanden war ich sehr überrascht, dass sie mich darauf ansprach. »Denk nicht mehr daran.« Ich blickte zu meiner umwerfenden großen Schwester auf. »Schon vergessen.«
    »Gut. Ich muss dir nämlich etwas

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