Tanz auf Glas
kullern. Es war eine besondere Mischung, die sie bei einer speziellen Kräuterapotheke in San Francisco bestellt hatte, und das Zeug roch nach Mist.
»Die sind doch für Pferde.«
Sie lachte. »Nimm gleich eine, und ab morgen eine jeweils morgens und abends.«
Ich schluckte die Kapsel mit einem Mundvoll Kiwi-Limetten-Eistee und verzog das Gesicht. Sie schmeckte tatsächlich nach Mist.
»Und, wie geht es dir?«, fragte Charlotte.
»Gut. Ich meine, ich fühle mich ganz gut. Irgendwie könnte ich immerzu schlafen. Aber abgesehen davon …« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich überlege gerade, ob ich verreisen sollte.«
»Ach, tatsächlich.«
»Dürfte ich denn fliegen?«
»Fliegen?«
»Ich will nach Hawaii, Charlotte.« Eine Minute lang sagte sie gar nichts, und ich sah ihr an, dass ihr diese Idee nicht behagte. »Ich meine, was könnte es denn schaden?«, fuhr ich fort. »Wenn irgendetwas mit mir sein sollte, gibt es auf Hawaii auch Ärzte, oder?«
»Natürlich.« Charlotte strich sich eine Strähne hinters Ohr. »Aber was hast du denn vor, Lucy?«
Was ich vorhatte? »Ich weiß es nicht. Mickey hatte mir zum Geburtstag eine Reise nach Hawaii versprochen. Ich habe zwar selbst nicht geglaubt, dass wir das tatsächlich machen, aber jetzt will ich da hin. Ich möchte ihn damit überraschen. Ist das verrückt?«
Charlotte stützte das Kinn auf die Handfläche. »Nein, verrückt nicht. Was ist mit der Schule? Du wolltest doch wieder arbeiten, hast du es dir anders überlegt?«
»Nein. Aber ich habe einen Kompromiss gefunden.« Ich erzählte ihr von meinem Plan, mich mit Miriam Brady abzuwechseln. Und Miriam hatte sich die erste Woche ausgesucht. »Also glaubte ich, dass es gehen könnte. Und es würde Mickey so guttun.«
Ich muss recht hoffnungsvoll dreingeschaut haben, denn Charlotte musterte mich noch einen Moment lang und sagte dann: »Ich erkundige mich und nenne dir ein paar Ärzte dort. Nur für alle Fälle.«
»Danke.« Ich grinste erleichtert. Eine Urlaubsreise. Obwohl ich Mickey angedroht hatte, dass ich mit ihm oder ohne ihn verreisen würde, hatte ich nicht vorgehabt, irgendwohin zu fliegen, seit ich wusste, dass ich schwanger war. Aber im Augenblick konnte ich mir nichts Himmlischeres vorstellen, als spontan mit meinem Mann durchzubrennen – wegzulaufen, weit, weit fort von all unseren Problemen.
Gott sei Dank hatte Charlotte keine Einwände, denn ich hatte vorhin bereits Adam Piper auf dem Handy angerufen. Muriels Enkel betrieb Piper’s Planet, das einzige Reisebüro in Brinley. Ich hatte ihm gesagt, was mir vorschwebte, und ihm meine Kreditkartendaten gegeben. Er hatte versprochen, das sofort für mich zu arrangieren.
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3 . September 2011
K ann nicht schlafen, zum dritten Mal aufgestanden!!
Eine kurze Lehrstunde: Das typische Kennzeichen der bipolaren Störung ist die instabile seelische Stimmung, die zyklisch zwischen extremen Hochs und Tiefs schwankt. Manchmal allerdings vermischen sich auch Manie und Depression zu einem Zustand, der das Schlimmste aus beiden Extremen vereint – man ist aufgedreht und furchtbar nervös bis ängstlich. Und so geht es mir gerade: Ich bin völlig übererregt – die Hölle, und fantastisch zugleich! Ich kann nicht schlafen und bin aufgewühlt von echten Sorgen und alptraumhaften Gedanken, und ich benehme mich schlecht. Das weiß ich, aber es ist mir egal. Ich weiß nicht, wie weit fortgeschritten mein Zustand ist, denn die äußeren Umstände bilde ich mir ja nicht ein – meine Frau ist wirklich schwer krank, wir erwarten tatsächlich ein Baby, und ich sitze in der Mitte und will nur noch fort von alledem.
Gleason sagt, zurzeit quäle mich wohl eher die Realität, die einen um den Verstand bringen könnte, als meine Geisteskrankheit. Das wäre möglich, aber ich habe nicht weiter mit ihm darüber gesprochen, weil ich ihn nicht gesehen habe. Gleason setzt mir manchmal ganz schön zu, und das ist ein Stress, den ich im Moment nicht auch noch gebrauchen kann. Ich habe schon genug um die Ohren! Lasst mich doch alle in Ruhe! Ich schlucke weiter brav meine Pillen, dann sind alle zufrieden, obwohl ich nicht behaupten kann, dass es mir davon bessergeht. Aber das größte Problem ist wahrscheinlich gar nicht meine Stimmung, sondern der Schmerz. Dieser Kummer ist ebenso wenig behandelbar wie die Angst.
Und die Scham. Falls Gleason doch recht haben sollte und meine Krankheit nicht die Ursache für mein Verhalten ist, dann bedeutet das, dass ich
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