Tanz auf Glas
sechsunddreißigtausend Fuß hoch über dem Pazifik und wälzte mich in Schuldgefühlen und Selbstzweifeln.
Jemand tippte mir auf den Arm. »Möchten Sie etwas trinken?«, fragte der Mann, während sich die Flugbegleiterin zu mir vorbeugte.
»Oh, Wasser mit viel Eis, bitte.« Sie reichte mir ein Glas und eine kleine Flasche Evian. Als sie wieder ging, wandte sich der Mann zu mir um. »Geht es Ihnen gut?«
»Ich glaube schon. Warum fragen Sie?«
»Sie sehen ein bisschen … bekümmert aus.«
»Tatsächlich? Nein, mir geht es gut. Na ja, es geht.«
Der Mann lächelte. Er hatte unglaublich gütige Augen. »Ich bin Thomas Worthington«, sagte er und streckte mir die Hand hin.
»Lucy Chandler. Freut mich, Sie kennenzulernen.«
Eine Zeitlang unterhielten wir uns über Belanglosigkeiten. Ich erkundigte mich nach seinem Beruf und erfuhr zu meiner Freude, dass er jahrelang als Schulpsychologe tätig gewesen war und jetzt eine eigene Praxis in einem kleinen Ort namens Alpine in Utah hatte. Er hatte ein Buch mit dem Titel
Kinder zur Verantwortung erziehen – in einer verantwortungslosen Welt
geschrieben und war unterwegs nach Honolulu, wo er auf einem Psychotherapie-Kongress einen Vortrag halten würde. Ich war angemessen beeindruckt, und das sagte ich ihm auch. Außerdem prägte ich mir den Titel seines Buches ein. Er war so liebenswürdig, mir dafür Anerkennung zu zollen, dass ich an der Highschool unterrichtete, und erklärte, er bewundere Lehrer jeder Art. Ich lächelte. »Utah, so, so. Sind Sie Mormone?«
»Erwischt.« Er grinste. »Aber ich habe nur eine Ehefrau, trotz allem, was Sie vielleicht im Fernsehen gesehen haben.«
»Verstanden.«
Thomas Worthington sah mir direkt in die Augen. »Also, Lucy Chandler, was heißt ›es geht‹ genauer?«
Ich lächelte schwach und stellte mir vor, wie sich die Antwort für jemanden wie Mr Thomas Worthington mit seiner wunderbaren Ehe und seinen wunderbaren Kindern anhören würde:
Tja, Mr Worthington, wissen Sie, mein Mann hat vorgestern Nacht versucht, sich umzubringen, also bin ich abgehauen, weil ich schwanger bin und bald sterben werde und er mir versprochen hatte, mit mir nach Hawaii zu fliegen. Und es hört sich bestimmt schrecklich an, dass ich ihn so im Stich gelassen habe, aber wissen Sie, also, Sie müssen das verstehen, ich …
Ich sah ihn an, bereit, seine Frage mit einer höflichen Floskel zu beantworten, doch aus irgendeinem Grund begann ich zu weinen. Keine Sturzbäche. Nur stille Tränen.
Thomas Worthington wandte nicht betreten den Blick ab. Stattdessen reichte er mir die Serviette, auf der sein Glas gestanden hatte, und fragte: »Was kann ich für Sie tun?«
Ich fand seine Anteilnahme so unwiderstehlich, dass die Worte mehr oder weniger willkürlich aus mir hervorsprudelten. Ich erzählte ihm von Mickey. Ich erzählte ihm mehr, als ich jemals einem anderen Menschen anvertraut hatte, und er schien von unserer Beziehung aufrichtig fasziniert zu sein, wahrscheinlich, weil er Psychologe war. Er sah mich nachdenklich an und fragte: »Können Sie sich überhaupt vorstellen, wie das Leben Ihres Mannes ausgesehen hätte, wenn Sie nicht gewesen wären? Er kann sich wahrhaft glücklich schätzen.«
Ich brauchte einen Moment, bis ich antworten konnte. »So habe ich das noch nie betrachtet«, sagte ich schließlich. »Ich habe immer nur gedacht, wie langweilig und vorhersehbar
mein
Leben ohne
ihn
wäre.«
»Das glaube ich gern.« Mr Worthington lachte leise.
»Als ich ihn kennengelernt habe, wusste ich, dass ich etwas Besonderes gefunden hatte – dabei war mir nicht einmal bewusst gewesen, dass ich danach suchte. Er hat ein paarmal versucht, mich davon abzuhalten, ihn zu heiraten. Aber ich glaube, wir wussten beide, dass wir zusammengehören.«
Thomas Worthington nickte. »Es ist tatsächlich ein Wunder, wenn wir unsere zweite Hälfte finden – den einen Menschen mit all seinen Fehlern, der unser Leben erst vollkommen macht.«
»Das stimmt. Und jetzt kann ich mir ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen.« Ich wandte mich ab, weil ich wieder um Fassung rang. Warum war ich hier? Was sollte das? Ich wollte ohne Mickey nirgendwo sein. Weder auf Hawaii noch in meinem eigenen Haus noch dort, wohin meine Seele bald ziehen würde. Ich wollte nicht ohne ihn sein, und der Gedanke war ein Stich mitten ins Herz.
Wir hatten lange geschwiegen, als ich mich wieder Thomas Worthington zuwandte. »Glauben Sie an das Leben nach dem Tod?«, fragte ich. Ich war
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