Tanz auf Glas
bessergehen. Er würde sich warm anziehen – ein Flanellhemd und diese ulkigen Handschuhe mit den abgeschnittenen Fingern. Ich würde lachend zuschauen, wie er Kinder in den wachsenden Laubhaufen warf. In ein paar Jahren würde er seine eigene Tochter in diesen weichen Hügel werfen, dick eingepackt und kichernd, mit strahlenden Augen und roten Wangen. Ich sah die beiden so deutlich vor mir wie unser altes Haus.
Als ich in der Einfahrt parkte, zuckte ein weißer Blitz über den Himmel, und ich legte einen halbherzigen Sprint zur Haustür ein. Trotzdem war ich durchweicht, bis ich die Veranda erreichte. Während ich nach meinem Schlüsselbund suchte, hupte es hinter mir. Ich drehte mich um und sah meine Schwester in die Einfahrt einbiegen. Lily winkte wie wild. Sie sprang aus dem Auto und rannte quer durch den Vorgarten, den Kopf gegen den Regen eingezogen. Ihre Handtasche flog wie ein Flügel hinter ihr her.
»Lucy!«, rief sie. »Da bist du ja.« Sie umarmte mich stürmisch. »Ich bin so froh, dass du wieder zu Hause bist. Wie geht es dir?« Sie trat einen Schritt zurück, um mich von Kopf bis Fuß zu mustern, und drückte mich dann wieder an sich. Donner krachte über uns, und eine Sekunde später schoss ein weiterer Blitz im Zickzack vom finsteren Himmel. »Gehen wir erst mal rein«, sagte ich laut, um den prasselnden Regen zu übertönen. »Ich mache uns einen Tee.«
Ein paar Minuten später saßen wir in der Küche, nippten Kräutertee und sahen zu, wie der Sturm vor dem Küchenfenster tobte.
»Also, Lu, wie war’s? Wie findest du Hawaii?«, fragte Lily und stützte die Ellbogen auf den Tisch.
»Wunderschön. Ohne Mickey hat es mir keinen Spaß gemacht, aber die Insel ist wunderschön. Ich habe geschlafen wie eine Tote, und ich war sogar in Pearl Harbor.«
Lily lächelte schief. »Ziemlich traurig, nicht?«
»Sehr traurig.«
Sie griff nach meiner Hand. »Wie fühlst du dich … ich meine, wirklich?«
»Heute war ein langer Tag, aber ich fühle mich gut.«
Lily suchte nach der Lüge in meinen Augen, gab aber bald auf. »Hast du Mickey schon besucht?«
»Ich bin direkt vom Flughafen zum Edgemont gefahren.«
»Und was meinst du?«
Ich zuckte mit den Schultern, denn ich wollte jetzt nicht wieder darüber reden. »Es geht ihm besser als neulich.«
»Tja, das stimmt wohl.« Lily schüttelte den Kopf. »Du bist einfach zu gut. Weiß er eigentlich, was für ein unglaubliches Glück er hat?«
»O ja, wir reden ständig darüber.«
»Also, ich sage ihm das schon die ganze Woche lang. Und Jan auch.«
»Danke, dass du nach ihm geschaut hast. Das ist sehr lieb.«
Lily versetzte mir einen zärtlichen Kinnhaken. »Er ist mein Bruder, oder? Natürlich haben wir nach ihm geschaut. Ron geht jeden Morgen hin und hilft ihm beim Duschen, und wir beide besuchen ihn, sobald wir den Laden abgeschlossen haben.«
Ich war fassungslos.
»Was dachtest du denn? Dass wir ihn da drin einfach vergessen, solange du weg bist?«, fragte Lily ungläubig.
»Ich weiß nicht, was … Ich habe ihn noch nie alleingelassen. Ihr seid einfach wunderbar«, sagte ich gerührt. Ich dachte an Muriels von Herzen kommendes, wenn auch etwas unheimliches Geschenk und die Karte von den Dunleavys auf Mickeys Nachttisch. »Einfach wunderbar.«
»Wusstest du, dass Priss gestern Abend bei ihm war?«
»Was?« Ich starrte sie mit offenem Mund an. »Im Ernst?«
»Ich bin beim Einkaufen Lainy Withers begegnet. Sie hat mir erzählt, dass sie Mickey Plätzchen vorbeigebracht hat und Priscilla da war, deshalb ist Lainy nicht geblieben.«
Meine Augen brannten. »Hast du sie gesehen, Lil? Hat sie dich angerufen?«
»Nein. Sie muss gleich wieder gefahren sein. Vielleicht war sie hier, um Nathan zu sehen.«
»Mickey hat kein Wort davon gesagt.« Ich erhob mich und drehte die Heizung auf. Ehe ich mich wieder setzen konnte, legte Lily beide Hände auf meinen Bauch und küsste ihn. »Wie geht’s der Kleinen?«, fragte sie ohne das geringste Zittern in der Stimme.
»Um ehrlich zu sein, ist sie ein bisschen rabiat.« Ich lachte leise. »Sie tritt ziemlich gern.«
Lily lächelte zärtlich zu mir hoch.
Ich setzte mich, und einen Moment lang schauten wir nur in den Regen hinaus. Als der Heizkessel zum ersten Mal seit Monaten stöhnte, erfüllte der Geruch nach Herbst mein Haus. In Wirklichkeit war das nur Staub, aber irgendwie verkündete dieser Geruch das offizielle Ende des Sommers – und den Beginn eines neuen Schuljahrs. Als hätte Lily meine
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