Tanz auf Glas
Gedanken gelesen, fragte sie: »Du willst doch nicht ernsthaft wieder zur Arbeit gehen, oder?«
»Montagmorgen.«
Ihre Schultern sanken herab. »Hast du dir das wirklich gut überlegt? Solltest du dich nicht lieber schonen?«
»Nein.«
»Aber Lucy …«
»Aber nichts, Lil. Ich kann nicht nur herumsitzen und warten.«
Traurigkeit schlich sich in Lilys Augen, und ich griff nach ihrer Hand. Sie ließ sie mich halten. Eine ganze Weile lang sagten wir beide nichts, sondern sahen nur zu, wie die Tropfen ans Fenster prasselten. Dann wandte sich Lily mir zu und lächelte trotz ihres Kummers. »Ich glaube, ich habe dir nie dafür gedankt, dass du bei Mom warst. Du weißt schon – dass du ihr geholfen hast, als sie so krank war.«
»Wie bitte?«
»Du hast dich so gut um sie gekümmert. Du hast alles gemacht, Lucy. Ich war an der Uni, und Priss hatte gerade ihre Stelle in Boston angetreten. Du hast alles allein gemacht, und ich habe nie auch nur danke gesagt.«
Ich schüttelte den Kopf »Ich habe in letzter Zeit oft an Mom gedacht. Wahrscheinlich habe ich dir das nie erzählt, aber eines der letzten Dinge, die sie damals zu mir gesagt hat, war, dass man sich vor dem Tod nicht zu fürchten braucht.«
»Ach, Lucy.«
»Diese Worte kann ich heute noch hören.«
Lilys Augen wurden feucht. »Ich werde nie vergessen, wie du mich damals angerufen hast, Lucy. Ich kann mich genau an deine Stimme erinnern, ruhig und gefasst. Du warst erst siebzehn, und du hast zu mir gesagt: ›Lil, Schätzchen‹ – du hast mich Schätzchen genannt –, ›ich habe schlechte Neuigkeiten.‹ Und dann hast du gesagt, dass Mom gestorben sei und du mich abholen würdest. Du warst die Stärkere. Du warst schon immer die Stärkste von uns dreien.«
»Das ist nicht wahr, Lil.«
»Doch, so ist es. Ich behaupte ja nicht, dass du nie frustriert oder ängstlich bist. Oder dir nie vor Sorge die Haare raufen würdest. Sondern dass du dich nie wieder aufrappeln musstest, weil du gar nicht erst hingefallen bist. Du bist unbesiegbar, Lucy. Unbesiegbar«, flüsterte sie.
Ich betrachtete meine Schwester – meine strahlende, grünäugige, hoffnungsvolle Schwester. Ich beobachtete, wie sie mit den eigenen Gedanken rang und sich einzureden versuchte, dass meine Kraft auch die Zerstörung in mir besiegen könnte. Ich zupfte sacht an ihrer Hand, und sie sah mir ins Gesicht.
»Ich hoffe, du hast recht«, flüsterte ich.
Sie räusperte sich, und ihre kummervolle Miene verwandelte sich in eine Maske der Fassung. Sie ließ meine Hand los, nahm eine Papierserviette aus dem Gestell auf dem Tisch und putzte sich die Nase. Die letzten, besonderen Augenblicke waren vorbei.
»Ich freue mich sogar darauf, wieder in die Schule zu gehen«, sagte ich aufrichtig. »Ich will so normal wie möglich leben, solange ich kann. Und ehe wir uns versehen, wird das Baby da sein.«
»Und dann kannst du mit der Chemo anfangen.«
Ich nickte. »So lautet der Plan, Lil.«
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21 . September 2011
G leason sagt, ich hätte mich stabilisiert. Ich fühle mich aber nicht stabil – ich fühle mich gezügelt. Die neuen Pillen halten meine Angst kurz vor der Panik auf und helfen mir, klar zu denken. Sie haben meine Impulse in einem kleinen Glas gefangen, wo sie nach und nach sterben, was vermutlich gut ist. Ich bin nur nicht sicher, ob sie wirksam genug sind. Nicht, solange ich manchmal glaube, ich könne den Krebs meiner Frau sehen. Ich kann ihn beinahe sehen, wie eine andere Frau, die da unmittelbar unter Lucys Haut lebt. Ich schaue zu, wie sie sich meiner Frau bemächtigt, bis Lucy den Schmerz nicht mehr aushält. Und ich hasse mich dafür, dass ich nichts tun kann außer zuzuschauen. Lucy hat keine andere Wahl, als der anderen nachzugeben und es auszusitzen, bis diese grässliche Krebshexe ihren Griff wieder lockert. Bis dahin versucht Lucy zu lächeln und so zu tun, als wäre es nicht so schlimm, wie ich glaube.
Ich habe Charlotte gefragt, was diese Episoden bedeuten. Sie sagt, dass der Krebs wächst. Ich nicke und schlucke noch eine Pille.
Ich ging wieder zur Arbeit, wie versprochen. In der dritten Septemberwoche wappnete ich mich und marschierte durch die himmlisch normalen, alltäglichen Türen der Midlothian Highschool. Keine andere Umgebung ist so geprägt von purem Eigeninteresse wie die Flure einer Highschool. Deshalb konnte eine Sterbenskranke innerhalb dieser Mauern praktisch unbemerkt herumlaufen.
Miriam Brady hatte unseren gemeinsamen Schülern
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