Tanz auf Glas
Minuten lang beobachtet und sich vergewissert hatte, dass es mir besserging, knipste er seine Lampe aus, schmiegte sich an mich und legte eine Hand auf meinen Bauch. Unsere Tochter bewegte sich, doch in Anbetracht dessen, was sie gerade mit mir durchgemacht hatte, kam sie mir relativ ruhig vor. Ich verschränkte die Finger mit Mickeys und spürte ihre Tritte unter unseren Handflächen. Der Vollmond hing in unserem Fenster wie in einem Rahmen, und ich starrte ihn an und lauschte meinen nicht ganz vertrauenswürdigen Atemzügen. Dann zog ich Mickeys Arm noch fester um mich.
»Ich bin da«, flüsterte er in meinem Haar, mit so ruhiger Stimme, dass ich sie kaum erkannte. Ich drehte mich zu ihm um. Das Mondlicht lag auf Mickeys Gesicht, und er sah mich an. Ich küsste ihn aufs Kinn.
Er drückte mich an sich, und wir sahen einander lange tief in die Augen. Dann fragte er: »Lucy, was glaubst du, was er wirklich ist? Der Tod, meine ich.«
Ich strich mit dem Zeigefinger seinen Kiefer entlang. »Das wüsste ich auch gern. Ich bin schon fast an der Ziellinie, Mickey. Ich will wissen, was als Nächstes kommt.«
»Ich auch«, sagte Mickey nachdenklich. Seine Augen schimmerten im Mondlicht.
»Ich hätte religiöser sein sollen«, flüsterte ich. »Es kommt mir jetzt wie ein furchtbarer Fehler vor, dass ich – dass
wir
– etwas so Wichtiges versäumt haben. Ich weiß, dass es einen Gott gibt. Aber es gäbe so viel mehr zu wissen über Ihn, über das Leben, die Ewigkeit und den Tod. Dieser Mann, den ich im Flugzeug kennengelernt habe – der wusste viel, Mic.« Ich biss mir bei der Erinnerung daran auf die Unterlippe. »Mich mit ihm zu unterhalten hat sich angefühlt, als hätte ich seit einem Jahr keine Zeitung mehr gelesen und andere Leute wüssten viel mehr als ich.«
»Psst.«
»Nein, ich kann jetzt nicht still sein. Mein ganzes Leben lang hing meine Hoffnung an ein paar Sätzen, die mein Vater zu mir gesagt hat, als ich noch ganz klein war.« Ich holte Luft und war dankbar dafür, dass Mickey den Mut gehabt hatte, das Thema anzusprechen. »Ich habe sie nie angezweifelt«, fuhr ich fort. »Noch nie im Leben habe ich an dem gezweifelt, was er damals gesagt hat, Mic. Aber was heißt das eigentlich genau? Ist der Tod nur ein Schritt in ein anderes Leben? Werde ich mich an alle erinnern, die ich liebe?« Meine Stimme klang auf einmal sehr leise und hoch.
»Ich würde das alles gern glauben«, sagte er. »Dann würde es vielleicht nicht ganz so weh tun.«
»Genau das meine ich ja. Wir hätten uns damit beschäftigen sollen, Mic. Einen festen Glauben entwickeln. Dann wäre es viel leichter.« Ich dachte wieder daran, was Thomas Worthington im Flugzeug gesagt hatte – ohne einen Augenblick zu zögern. Sein Glaube daran, dass wir im Jenseits von den Menschen umgeben sein werden, die wir lieben –
und vollkommen gesund
–, war für ihn eine Selbstverständlichkeit. Er wusste genau, was er glaubte.
Mickey und ich schwiegen für eine Weile, dann hob er sacht mein Kinn an und sah mir wieder in die Augen. »Es spielt keine Rolle, wo du bist, Lucy. Hier, dort, egal wo. Ich werde dich einfach weiterlieben. Wenigstens das wird mir wohl immer bleiben.«
»Ich dich auch, mein Schatz.«
Er küsste mich zärtlich. »Liebe mich, Mickey«, flüsterte ich.
»Lu, nein. Das geht nicht.«
»Doch, das geht.«
»Ich weiß nicht …« Seine Stimme klang auf einmal heiser.
»Psst.« Ich knabberte sacht an seiner Unterlippe.
Er küsste mich. Es war ein vorsichtiger Kuss, der aber dennoch sein Verlangen nach mir verriet. Ich seufzte in seinen offenen Mund und wäre mit ihm zu allem bereit gewesen.
Mickey und ich hatten uns im Laufe der Jahre auf verschiedene Weise geliebt. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung hat solch eine bipolare Störung auch ihre Vorteile. Manchmal kommt es mir so vor, als beherberge mein Ehemann gleich eine Reihe leidenschaftlicher Männer, und ich bin überzeugt davon, zu den zufriedensten Frauen auf der Welt zu gehören. Doch in jener Nacht begegnete ich meinem Lieblingsliebhaber.
Mickey liebte mich langsam, als fürchtete er, mir weh zu tun – langsam, schmelzend, unglaublich zärtlich. In meinem schmerzenden, unförmigen Körper fühlte ich mich anfangs wie eine Fremde unter seinen Händen. Doch je länger er mich liebkoste, desto höher stieg ich über den Schmerz und die Auflehnung hinaus, bis ich mich in purer Empfindung verlor. Er ließ sich viel Zeit und streichelte meine vernarbte Brust und
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