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Tanz auf Glas

Tanz auf Glas

Titel: Tanz auf Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ka Hancock
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keine Ruhe geben, ehe du nicht ihren Tee, ihre Suppe oder was ihr sonst noch einfällt im Magen hast, also kommst du am besten gleich mit rein.« Harry klopfte mir sanft auf den Rücken, und was blieb mir da anderes übrig?
    Drinnen merkte ich erst, wie kalt mir geworden war. Jan nahm mir die Jacke ab, hängte sie nahe am Kamin auf und legte mir eine dicke Wolldecke um die Schultern. Während ich an Jans Küchentisch saß und mich von den beiden umsorgen ließ, platzte etwas in mir plötzlich auf, und ich fing ganz fürchterlich an zu heulen. Jan betüddelte mich wie eine gute Mutter. Harry war stiller. Er setzte sich nur zu mir und legte eine Hand auf meine.
    »Ist schon gut, mein Junge, lass es raus.«
    Ich kann nicht beschreiben, wie es war, im Herzen dieser Menschen geborgen zu sein. Mir war auch nicht klar gewesen, wie angespannt ich war. Ich wusste nur, dass es sich unglaublich gut anfühlte, laut zu schluchzen und alles aus mir hinausfließen zu lassen, was ich bei Lily zurückgehalten hatte. Es mussten sich eine Menge Emotionen angestaut haben, denn es dauerte eine ganze Weile. Als ich mich endlich wieder beruhigen konnte, sagte ich, dass ich das schon längst hätte tun sollen. Ich hatte in den vergangenen Monaten jede Menge Tränen geweint, aber nie zur Kenntnis nehmen wollen, dass ich auf ein Leben ohne Lucy überhaupt nicht vorbereitet war.
    Jan und Harry hielten mich, bis ich mich wieder im Griff hatte. Dann aßen wir Suppe. Es war zehn nach elf, aber wir aßen Suppe mit Jans selbstgebackenem Sauerteigbrot, Butter und Honig, und es gab Apfelsaft aus ihren eigenen Äpfeln. Alles war köstlich, und ich hatte schon so lange keinen Hunger mehr gespürt oder irgendetwas richtig gern gegessen. Später bestand Harry darauf, mich zu Lily und Ron zu fahren, aber ich erwiderte, ich wolle lieber zu Fuß gehen.
    »Dann versprich mir, dass du an Weihnachten zum Brunch kommst«, sagte Jan.
    »Versprochen. Und erschreckt euch nicht, falls ihr morgen aus dem Fenster schaut und drüben Licht seht. Ich komme nach Hause.«
    »Ach, Lieber, bist du wirklich schon so weit?«
    »Ich werde nie so weit sein, Jan. Aber es wird Zeit.«
    »An Heiligabend? Bist du sicher?«
    »Ja, ganz sicher. Wenn ich es morgen tue, kann es von da an nur noch leichter werden.«
    Jan reckte den Kopf und küsste mich auf die Wange. »Du weißt ja, wir sind da.«
    Ich nickte.
    »Dann nimm zumindest die hier.« Harry zog mir eine Skimütze über den Kopf. »Wenn ich dich schon nicht fahren darf, zieh dich wenigstens warm an.«
    »Danke. Danke für alles.« Ich schaute an ihnen vorbei zu dem gigantischen Weihnachtsbaum, der ihr halbes Wohnzimmer einnahm. Er funkelte in weichem Licht und vielen Farben und verlieh dem Raum diese Atmosphäre, die so einmalig an Weihnachten ist. Trotz allem, was geschehen war, fühlte ich mich ein wenig getröstet.
    Ich ging hinaus in die Kälte. Der Vollmond erhellte die Nacht mit silbrigem Glitzern. Ich dachte an meine Frau, und zum ersten Mal versetzte mir die Trauer um sie keinen so schrecklichen Stich wie sonst. Das überraschte mich, also wagte ich mich weiter vor. Ich rief mir unser erstes gemeinsames Weihnachtsfest in Erinnerung. Den völlig schiefen Baum, der sich einfach nicht gerade aufstellen lassen wollte und bei einem meiner Versuche schließlich umkippte und mich unter sich begrub. Lucy hatte so lachen müssen, dass sie keine Luft mehr bekam und mich nicht aus meiner Notlage befreien konnte – ein großer Mann, der unter einem großen Baum feststeckte. Ich erinnerte mich an jenen Abend vor so vielen Jahren, an jede lebhafte Einzelheit. Ich dachte so fest an Lucys mitleidsloses, schallendes Lachen, dass ich es beinahe hören konnte.
    Es klang wie Musik.

[home]
    35
    I ch hatte es den ganzen Tag über hinausgezögert, Vorwände gefunden, mich mit Unwichtigem beschäftigt, damit ich es so lange wie möglich aufschieben konnte, nach Hause zu gehen. Ich wusch meine Wäsche. Und Abbys Wäsche. Ich putzte das Gästebad, das ich benutzt hatte. Ich machte mein Bett. Und ich nutzte jede Chance, meine Tochter im Arm zu halten. Vielleicht lag es daran, dass ich immer noch da war, oder Weihnachten hatte sie nun doch kalt erwischt, jedenfalls war Lily ungewöhnlich still. Nicht kalt oder unfreundlich, nur gedämpft. Während ich Abby in den Armen wiegte, verpackte sie Geschenke und schmückte den Baum, der seit einer Woche nackt im Wohnzimmer stand. Nur ein einziges Mal, als sie die Strümpfe aufhängte, sah ich sie

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