Tanz auf Glas
emotional werden.
Sie hatte ihren Strumpf und auch Rons aufgehängt und griff nach einem dritten. Ich beobachtete, wie sie mit der Hand darüberstrich, dann schaute sie zu mir herüber.
»Ich glaube, den habe ich dir noch gar nicht gezeigt«, sagte sie und hielt ihn mir hin. Vorn drauf prangte ein Bild von einem schlafenden Baby unter einem Weihnachtsbaum. Es sah aus wie gemalt, bestand aber in Wahrheit aus winzigen Stickstichen. Ich erkannte gleich, dass der Strumpf ein altes Stück war, ein Gegenstand mit Geschichte, wie all die wunderbaren Dinge in Lucys Haus. Sie befühlte den Saum.
»Ich glaube, den hat eine frischgebackene Mutter bestickt, denn das konnte sie gut an der Wiege tun, während ihr Baby schlief. Oder vielleicht eine Großmutter, die allein war und Zeit für so etwas hatte. Das Bild ist vermutlich an einem Fenster entstanden, wo das Licht gut war, vielleicht auch vor einer Petroleumlampe. Aber in jedem Fall wurde es mit sehr viel Liebe gestickt.« Lily seufzte. »Jemand, der das kleine Mädchen sehr liebte, hat das Bild für sie gemacht, und deshalb fand ich es perfekt für unsere Abby.«
»Woher weißt du, dass das ein Mädchen ist?«
Lily kam zu mir herüber. »Weil man ein Kettchen an ihrem kleinen Handgelenk erkennen kann.«
Ich folgte Lilys schlankem Finger, der mir die Stelle zeigte. Tatsächlich, am Handgelenk des Babys, halb unter dem Baum verborgen, war eine winzige silberne Kette auszumachen. Mir wäre sie niemals aufgefallen, aber Lil hatte recht.
»Was meinst du, wie alt der Strumpf ist?«
»Oh, er ist datiert. Siehst du, hier, sehr klein und ein wenig ausgefranst, aber es sieht aus wie achtzehnhundertzweiundsiebzig – oder vielleicht achtundsiebzig. Aber er ist wunderbar erhalten, vermutlich ein kostbares Familienerbstück, bis er bei jemandem landete, der sich mehr für die vierhundertfünfundachtzig Dollar interessierte, die ich bei eBay dafür geboten habe.«
»Kaum zu glauben, dass sich jemand von so etwas trennen kann.«
»Für den einen ist es ein kostbares Erbstück, für den anderen die nächste Kreditrate.« Lily legte den Strumpf auf die Sessellehne, und während sie in einer Schachtel mit Baumschmuck herumkramte, fragte ich mich, warum sie ihn nicht mit den anderen beiden aufgehängt hatte. Doch dann ging mir auf, dass sie das aus Rücksicht auf mich nicht getan hatte. Ich wusste die Geste zu schätzen.
Als ich aus Lilys großem Wohnzimmerfenster schaute und sah, dass es draußen schon dämmrig wurde, wurde mir bewusst, dass ich den Tag hiermit offiziell vertrödelt hatte. Abby schlief in meinen Armen, und ich hob sie ein wenig an und küsste sie. Ich schmiegte die Wange an sie und atmete sie ein. Als ich diesen Augenblick losließ und aufblickte, starrte Lily mich an. Ihre Augen waren feucht wie meine auch, doch keiner von uns schaute fort. Ich hielt meine ganze Welt in den Armen, und als ich mir das eingestand, spürte ich, wie sich die Verzweiflung bis in mein Gesicht stahl. Aber ich wusste nicht, was ich dagegen hätte tun können.
Lily kam zu mir und nahm mir Abby sanft aus den Armen. »Ron kann sich um sie kümmern«, flüsterte sie. »Wir müssen Lucy besuchen.«
»Oh, Lil, ich …«
»Es wird Zeit, Mickey. Für uns beide.«
Wir fuhren zum Friedhof, ohne ein einziges Wort miteinander zu wechseln. Es war niemand da, als wir auf dem Parkplatz hielten, aber im Laufe der Woche waren offensichtlich viele Besucher hier gewesen. Stechpalmenzweige, erfrorene Weihnachtssterne, sogar ein paar Mini-Weihnachtsbäume schmückten die Gräber. Lily parkte bei dem schmalen Weg, der zu Lucys Grab hinaufführte, und stellte den Motor ab. Wir blieben ein paar Minuten lang sitzen, immer noch schweigend, und sahen zu, wie es wieder zu schneien begann. Schließlich öffnete Lily die Fahrertür. »Lass dir so viel Zeit, wie du brauchst, Mickey«, sagte sie und stieg aus. Sie nahm ein paar kleine Tannen in Töpfen vom Rücksitz und schubste die Tür mit der Hüfte zu. Ich wartete nur einen Augenblick lang und stieg dann ebenfalls aus. Es war kalt, und der Wind fuhr mir durch die Jacke, während ich Lily den Hügel hinauffolgte.
Ich war lange nicht mehr hier gewesen und schämte mich dafür, erst jetzt zu kommen und sogar Lucys Begräbnis verpasst zu haben. Oben auf dem Hügel blieben wir vor der Marmorbank stehen und betrachteten die kleine Familie aus Grabsteinen vor uns. Der von Lucys Eltern war eine dicke Platte aus rötlichem Granit, der kleine weiße Grabstein von Lucys
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