Tanz auf Glas
Gelegenheit da war, stellte sich heraus, dass ich mir selbst nichts Interessantes zu sagen hatte.
Ich zog die Knie an die Brust. Das Wohnzimmer war schummrig beleuchtet, weil nur eine Lampe brannte, und ich blickte mich in dem Raum um, in dem ich aufgewachsen war. In diesem Zimmer hatte mein Vater an einem wackeligen Kartentisch Poker gespielt. Hier hatte ich Lily und Ron beim Knutschen erwischt, als sie noch auf der Junior Highschool waren. In diesem Raum hatte Priscilla meine weinende Mutter zum Abschied noch einmal richtig angebrüllt.
Diese Wände hatten all das miterlebt, die ganze Entwicklung meiner Familie. Ich wünschte mir so sehr die Chance, mein kleines Mädchen mit leuchtenden Augen an Weihnachten hier hereinkommen zu sehen, während Mickey alles mit der Videokamera festhielt! Sie verdiente es, in diesem klapprigen, knarrenden, gemütlichen Haus aufzuwachsen, in dem so viel Geschichte steckte. Und ich verdiente es, sie hier großzuziehen, verdammt noch mal!
Ich war beinahe auf dem Sofa eingeschlafen, als ich ein leises Klopfen an der Haustür hörte, zu leise für Mickey. Die alte Tür schwang langsam auf, und Harry Bates kam in Pyjama und Bademantel herein. Er sagte kein Wort. Rons Vater ist genau wie mein Schwager, still, stark, würdevoll. Er ist groß, seine Ausstrahlung fordert Aufmerksamkeit, und seine Gelassenheit wirkt beruhigend, selbst wenn er offensichtlich gerade zu Bett gehen will.
»Hallo, Harry.«
Er lächelte und setzte sich neben mich aufs Sofa. Harry sah mich ohne Angst an, ohne übertriebene, mitfühlende Besorgnis, die so nervtötend sein kann. Er war einfach stark und präsent.
»Was kann ich für dich tun, Süße?«, flüsterte er.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also lehnte ich nur den Kopf an seine Schulter.
Harrison Bates war ein Teil meiner Familie geworden, als ich fünf Jahre alt gewesen war. Er kam einfach, um uns zu helfen, und versuchte nie, in Fußstapfen zu treten, die nicht die seinen waren, und in diesem zarten Alter hätte ich das sehr wohl gemerkt. Auch jetzt war mir das bewusst. Doch als ich Harry ansah, vermisste ich meinen Vater schrecklich. Ich schüttelte den Kopf. »Sei der einzige Mensch, der nicht davon ausgeht, dass ich sterben werde.«
»Ich denke, das kann ich«, sagte er und nahm meine Hand.
Ich seufzte. »Was tust du hier? Es ist schon nach Mitternacht.«
»Deine Schwester ist noch drüben bei uns und schüttet Jan ihr Herz aus. Da habe ich beschlossen, mich selbst davon zu überzeugen, ob es wirklich so schlimm um dich steht, wie sie behauptet.«
Ich musste trotz allem lächeln. »Noch ist das Todesurteil nicht verkündet.«
»Na, warum weinen sich dann alle die Augen aus?« Er umarmte mich. »Wo ist Mic?«
»Joggen gegangen.«
»Soll ich mich auf die Suche nach ihm machen?«
»Nein. Ich glaube, er braucht ein bisschen Zeit für sich. Es war sehr schwer für ihn, das jetzt wieder zu hören.«
»Und für dich?«
Ich nickte, brachte aber kein Wort heraus.
Harry und ich blieben noch ein paar Minuten lang schweigend in der Stille sitzen. Als meine Lider so schwer wurden, dass ich die Augen kaum mehr offen halten konnte, sagte ich, ich wolle jetzt ins Bett. Er küsste mich auf den Kopf und erbot sich noch einmal, nach meinem Ehemann zu suchen. Doch wie aufs Stichwort kam Mickey zur Tür herein. Er sah schrecklich aus. Seine Augen waren geschwollen, sein Haar klatschnass. Er war schnell und weit gelaufen. Mit einem Nicken nahm er Harry zur Kenntnis, sagte jedoch nichts.
Harry ging zu Mickey hinüber und klopfte ihm auf die Schulter. »Passt gut auf euch auf, ihr beiden«, sagte er, ehe er ging.
Mickey wandte sich mir zu, und wir starrten einander an. Dann kam er zum Sofa und nahm mich fest in die Arme. Er sprach immer noch kein Wort. Und als wir uns beide ausgeweint hatten, trug er mich nach oben.
Mickey und ich saßen händchenhaltend im Sprechzimmer von Roland Matthews und warteten darauf, was der Arzt uns zu sagen hatte. Mickeys Stimmung war düster, aber er bemühte sich, das zu verbergen. Doch sein tiefes Seufzen und die Art, wie er auf der Innenseite seiner Wangen herumkaute, verrieten ihn. Er hatte eine schlimme Nacht hinter sich, trotz einer doppelten Dosis Zolpidem. Ich hob die freie Hand und strich ihm über die Wange, und er brachte ein angespanntes Lächeln zustande. Dann ertappte ich mich bei einem Tagtraum – ein Mann, der genauso aussah wie Mickey, streichelte meine Wange und versicherte mir mit gelassener
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