Tanz der Engel
oben.
Warum stach sie nicht gleich mit dem Tranchiermesser auf mich ein?
Christopher handelte sofort, zog mich vom Stuhl und schleppte mich ins Bad, wobei er nicht vergaß, meinen Eltern ein beruhigendes Das-wird-gleich-wieder-Lächeln zuzuwerfen.
Christophers sanfte Hände betäubten den Schmerz nach wenigen Sekunden. Dankbar kuschelte ich mich an ihn.
»Ich hätte schneller reagieren müssen«, sagte er.
»Ist schon okay.«
»Nein, das ist es nicht. Du hast heute schon genug gelitten.«
»Wir beide«, fügte ich hinzu und hauchte ihm einen Kuss auf den Mund, der mich schwindelig machte. Trotzig presste ich meine Lippen noch ein wenig länger auf seine – ich sehnte mich nach mehr. Irgendwann musste das mit der Ohnmacht ja mal vorbeigehen.
Christopher schob mich von sich. Seine Miene verriet, dass er den Kuss nicht genossen hatte. Frustriert gab ich auf. Ihn zu etwas zu überreden, das er als verfrüht ansah, erforderte Fingerspitzengefühl.
Meine Mutter zauberte meinen Lieblingsnachtisch herbei – wenigstens etwas, das mich glücklich machte. Ihre Crème brulée war die beste. Gerade als ich den ersten Bissen im Mund zergehen ließ, klingelte es an der Tür.
»Es tut mir leid.« Christopher faltete seine Serviette zusammen und schob sein unberührtes Dessert zu mir. »Lynn kümmert sich bestimmt um meinen Nachtisch, aber ich muss los.«
Zum zweiten Mal blieb mir ein Bissen im Hals stecken.
»Ich komme übermorgen wieder, um dich abzuholen – für deine Extra-Lernwoche im Internat«, betonte er.
Wie erstarrt blieb ich sitzen. Er ließ mich allein? Jetzt?
Das Klingeln wurde dreister. Christopher stand auf. »Mein Bruder. Er wird schnell ungeduldig«, entschuldigte er sich, hauchte mir einen Abschiedskuss auf die Wange – sicher nur, um mich ein wenig zu betäuben – und eilte, nach wiederholten Beteuerungen, wie lecker das Essen und wie schön das Weihnachtszimmer dekoriert war, davon.
Meine Mutter reagierte geistesgegenwärtig und ließ ihn nicht entkommen. Gemeinsam mit Christopher erreichte sie die Eingangstür, schnappte sich seinen Halbbruder und zerrte beide ins Wohnzimmer. Wahrscheinlich starrte ich Aron genauso entgeistert an wie er meine Mutter.
»Ohne Nachtisch verlässt hier niemand das Haus«, verkündete sie, drückte Christopher auf seinen Stuhl zurück und Aron auf den freien daneben. »Gut, dass ich genügend davon habe«, säuselte sie und eilte in die Küche – zwei potentielle Schwiegersohnkandidaten ließen sie zu Höchstform auflaufen.
»Aron, nun hast du doch noch jemanden gefunden, bei dem du Weihnachten verbringen kannst.« Ich schenkte meinem Vatermein schönstes Tochter-Überredungs-Lächeln. »Sie dürfen doch bleiben? Weißt du, Aron ist nur meinetwegen hier. Christopher wollte mich unbedingt heute noch nach Hause bringen. Ein Versprechen, das er auf keinen Fall brechen wollte.« Ich warf Christopher ein diabolisches Lächeln zu, das nur er und Aron verstanden.
»Sie müssen doch nicht die weite Strecke zu Christopher fahren, nur damit Aron eine Unterkunft hat. Da Chris mich übermorgen ja schon wieder abholen will, säße er praktisch nur im Auto – und das an Weihnachten! Du hast sicher nichts dagegen, wenn die beiden bei uns übernachten.« Ich übertraf mich gerade selbst.
Mein Vater durchschaute mich und kam Christophers Einwand zuvor. »Klar. Kein Problem. Aron kann gerne im Gästezimmer übernachten, und Christopher findet sicher bei dir Unterschlupf.«
»Danke, das ist wirklich sehr großzügig, aber ich bin es gewohnt, weite Strecken zurückzulegen«, versuchte Christopher sich aus der Schlinge zu reden.
Mein Vater wurde ernst. Er schwenkte sein Weinglas, bevor er vorsichtig daran roch, als würde die Flüssigkeit ihm verraten, welcher Teil an der Geschichte stimmte und welcher gelogen war. Er hatte mich beobachtet, als Christopher fluchtartig aus dem Haus stürmen wollte. Und bestimmt erinnerte er sich auch noch an den vergangenen Sommer, als ich vergeblich auf ihn gewartet hatte. Er wusste, was ich mir wünschte, und ergriff Partei.
»Vielleicht macht es dir nichts aus, unterwegs zu sein, doch ich bezweifle, dass Lynn das genauso sieht. Weihnachten allein zu verbringen macht sie sicher nicht glücklicher, als sieben Wochen lang vergeblich zu warten.« Er warf Christopher einen warnenden Blick zu. »Bleib oder nimm sie mit. Aber wenn du es ernst mit ihr meinst, dann lass sie nicht allein.«
Meine Augen füllten sich mit Tränen. Heimlich versuchte
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