Tanz der Engel
dagegen war groß, als er mir seinen Vorschlag unterbreitete.
»Sobald du dich umgezogen und hier aufgeräumt hast, gehen wir ins Gelbe Haus.«
Sein Angebot, mein Zimmer verlassen zu dürfen, beflügelte mich. Ohne Widerspruch räumte ich in Höchstgeschwindigkeit die Bücher zurück ins Regal und zog mir im angrenzenden Badezimmer Jeans und eine helle Leinenbluse an, während Aron mein Zimmer kontrollierte.
Ich frühstückte allein auf der großen Terrasse mit Blick über den See. Die Engel saßen bereits im Unterricht. Doch das war mir egal. Alles war besser, als in meinem Zimmer vor mich hin zu schmachten.
Auch in der Engelswelt war der Herbst eingezogen. Dennoch standen die Rosen im Garten neben dem Gelben Haus in voller Blüte. Ihr Duft mischte sich mit dem des Lavendels und der violetten Astern. Ein paar Engel flitzten übermütig am Ufer des blauschillernden Sees entlang und verschreckten die Enten, die quakend ins Schilf flüchteten. Und zum ersten Mal seit meinem Angriff auf Aron fühlte ich mich beinahe wohl in seiner Gesellschaft.
»Wenn du gegessen hast und es danach noch bis runter zum See schaffst, werden wir ein wenig beim Flugtraining zuschauen«, erklärte er.
Natürlich konnte ich das. Das Schwindelgefühl beim Aufstehen ignorierte ich. Mein erster Freigang sollte nicht aufgrund eines Schwächeanfalls frühzeitig zu Ende sein.
Aron bemerkte, wie schwer es mir fiel, mich auf den Beinen zu halten. Er sorgte dafür, dass ich weiterkämpfen musste, täglich an die frische Luft kam und Christopher immer seltener sah – und niemals allein.
Christopher schien das nichts auszumachen. Mir dagegen schon. Ein wenig mehr als einen vorsichtigen Begrüßungskuss hätte ich bestimmt verkraftet. Vielleicht sollte ich mir die Lippen aufbeißen, damit Christopher sie heil küssen konnte. Bei einem von Arons Pflichtspaziergängen riss mir schließlich der Geduldsfaden.
»Wie lange muss ich deine chronische Fürsorge eigentlich noch ertragen?«
»Sag bloß, du langweilst dich mit mir?!«
»Das auch – aber vor allem: Du nervst! Hast du so wenig Vertrauen zu Christopher, der dir das Leben gerettet und mich außer Gefecht gesetzt hat, dass du uns keine Sekunde allein lassen kannst?«
»Als dein Schutzengel …«
»Genau!«, fiel ich ihm ins Wort. »Wovor willst du mich hiereigentlich beschützen? Vor Christopher, Pauls Amphibienexperimenten oder etwa vor der Totenwächterin, die nicht ins Schloss der Engel kann?«
Arons Schweigen ärgerte mich. Ich wollte wissen, warum er mich festhielt. »Allerdings habe ich gehört, dass sie mir eh nichts mehr antun kann.«
Aron blieb stehen. Mein Wissen schien ihn zu überraschen. »Ja. Das stimmt.«
Seine Antwort ließ mich frösteln. Raffael hatte also die Wahrheit gesagt. Die Kälte in meinen Träumen kam nicht von der Totenwächterin, sondern von meiner sterbenden Seele.
»Sollte ich nicht langsam mal in meine Welt zurückkehren?«
»Deine Frage überrascht mich, Lynn. War es nicht dein ausdrücklicher Wunsch, hier zu sein?«
»Ja, schon«, gab ich zu und suchte Zuflucht in einer Ausrede. »Aber was ist mit meinen Eltern? Sie werden sich Sorgen machen.«
»Wohl kaum. Sie denken, du wärst in Kanada. Und deine Mitschüler und Lehrer glauben, dass deine Eltern dich überraschend abgeholt und ein nettes Wochenende mit dir in Frankfurt verbracht haben, bevor du von dort aus direkt zu deiner Gastfamilie geflogen bist. Und die denkt wiederum, du wärst auf deiner Schule geblieben.«
Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, was Aron mir da erklärte. Niemand würde mein Fehlen bemerken. Er brauchte nicht selbst Hand anzulegen, sondern musste nur warten, bis meine Seele ihren Geist aufgab.
Wusste Christopher Bescheid? Hielt er Abstand, weil er es musste? Weil die Engel mich zum Sterben verurteilt hatten?
Der Boden unter meinen Füßen bebte. Ich geriet ins Schwanken. Aron packte meinen Arm und hielt mich fest. Doch ich riss mich los.
»Wie lange noch?«, flüsterte ich.
»So lange, bis ich mir sicher bin, dass …«, er stockte – der Feigling traute sich nicht, es mir ins Gesicht zu sagen. »Dass deine Wunden dir keine Schwierigkeiten mehr bereiten.«
»Und was ist mit meiner Seele?«
»Auf die werde ich ganz besonders achten. Schließlich bin ich dein Schutzengel.« Ja, das war er: einer, der einen hängen ließ.
Zu meiner Überraschung holte Christopher und nicht Aron mich am nächsten Morgen ab – und er war allein! Ich nutzte die Gelegenheit,
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