Tanz der Hexen
Eigentlich hatte sie nicht den leisesten Zweifel daran, daß sie böse war. Solche Gedanken fand sie altmodisch und typisch für Onkel Julien, besonders so, wie er sich in ihren Träumen benahm.
Sie durchquerte die Küche und ging langsam durch die kleine Geschirrkammer; hübsches weißes Licht fiel von der Veranda draußen auf den Dielenboden. Ein so großartiges Eßzimmer. Michael vermutete, daß der Hartholzfußboden in den dreißiger Jahren gelegt worden war, aber Julien hatte Mona erzählt, er stamme aus der Zeit um 1890, es war ein Boden, den man Holzteppich nannte und der in einer Rolle geliefert worden war. Was sollte Mona mit all den Dingen anfangen, die Julien ihr in diesen Träumen erzählt hatte?
Die dichten, düsteren Wandgemälde waren im Dunkeln übe r raschend deutlich zu sehen – die Plantage Riverbend, wo J u lien geboren war, und ihre altertümliche Welt mit der Zuckerrohrmühle, den Sklavenhütten und Stallungen und den Kutschen, die auf der alten Uferstraße entlangfuhren. Aber sie hatte ja auch Katzenaugen, nicht wahr? Immer schon. Sie lie b te die Dunkelheit. Sie fühlte sich darin sicher und heimisch. Sie bekam dann Lust zu singen. Es war unmöglich, anderen zu erklären, wie wohl ihr dabei war, wenn sie allein in der Dunkelheit umherstreifte.
Sie ging um den langen Tisch herum, der jetzt abgeräumt und abgedeckt und blankpoliert war, obgleich hier erst vor wenigen Stunden das letzte Mardi-Gras-Bankett stattgefunden hatte, einschließlich Zuckergußtorten und einer silbernen Punschbowle voll Champagner. Junge, die Mayfairs fraßen sich wirklich krank, wenn sie in die First Street kamen, dachte sie. Alle waren einfach glücklich darüber, daß Michael bereit war, das Haus weiter zu bewohnen, obwohl Rowan einfach verschwunden war, noch dazu unter so mysteriösen Umständen. Ob Michael wußte, wo sie war?
Tante Bea hatte mit Tränen in den Augen gesagt: »Sein Herz ist gebrochen!«
Nun, hier kommt die Kleine mit dem Wunderkleber für gebrochene Herzen! Mach Platz, Welt: Es ist die kleine Mona.
Sie trat durch die hohe, schlüssellochförmige Tür in den vorderen Flur, und dort blieb sie stehen und legte die Hände an den Türrahmen, wie Onkel Julien es auf so vielen alten Bildern tat, bei dieser und bei der anderen Tür; sie fühlte die Stille und die Größe des Hauses um sich herum, und sie roch das Holz.
Und dieser andere Geruch. Da war er wieder und machte sie… was? Beinahe hungrig. Es duftete köstlich, was immer es war. Kein Toffee, nein, kein Karamel, keine Schokolade, aber doch etwas Dickes, ein Duft wie hundert Düfte, zu einem einzigen zusammengepreßt. Wie wenn man zum ersten Mal in eine schokoladenumhüllte Kirschpraline biß. Oder in ein Ca d bury-Osterei.
Sie bewegte sich durch den Flur und bemerkte die blinkenden Lichtpunkte anderer Alarmgeräte, die alle nicht scharfgestellt waren, die alle warteten, und der Geruch wurde am stärksten, als sie am Fuße der Treppe stehen blieb.
Sie wußte, Onkel Ryan hatte die ganze Umgebung hier untersucht; als man alles Blut weggewischt und den chinesischen Teppich aus dem Wohnzimmer weggeschafft hatte, war er mit einer Chemikalie angekommen, die noch eine Menge anderes Blut im Dunkeln leuchten ließ. Na, aber jetzt war alles weg. Einfach weg. Dafür hatte er gesorgt, bevor Michael aus dem Krankenhaus gekommen war. Und er hatte geschworen, er könne jetzt keinen Geruch mehr wahrnehmen.
Sie schaute ins Wohnzimmer und sah, verblüfft wie schon einmal, wie Michael alles verändert hatte, nachdem Rowan verschwunden war. Natürlich war der chinesische Teppich weggeschafft worden; er war voller Blut gewesen. Aber er hä t te ja die alte Einrichtung des Doppelsalons nicht abschaffen müssen, oder? Hatte er aber. Eine Blasphemie gegen das Haus Mayfair.
Es war jetzt ein einziger endloser Raum mit einem riesigen Sofa unter dem Bogen an der Innenwand. Hübsche französische Stühle, überall verstreut – sie gehörten alle Onkel Julien, wie er behauptete -, jetzt mit neuem Golddamast oder mit e i nem gestreiften Stoff bezogen, was unheimlich teuer aussah. Durch eine gläserne Tischplatte sah man die dunklen Ber n steinfarben des großen alten Teppichs. Er mußte sieben, acht Meter lang sein, dieser Teppich, wie er so durch beide Räume reichte und den Boden vor beiden Kaminen bedeckte. Und wie alt er aussah – wie etwas vom Dachboden oben, aber daher kam er ja höchstwahrscheinlich auch. Vielleicht hatte Michael ihn zusammen mit den goldenen
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