Tanz der Hexen
sie. »Du schläfst nicht genug. Gelehrte in Amsterdam – was soll das alles? Was kümmern uns Leute, die Geschichten über uns erzählen und die uns Hexen nennen? Wir sind welche, und das ist unsere Stärke. Du versuchst nur, alles in irgendeine Ordnung zu bringen. Aber es gibt keine Ordnung.«
»Du irrst dich«, sagte ich. »Und du verrechnest dich.«
Immer wenn ich in Stellas unschuldige Augen blickte, erkannte ich, daß ich ihr die ganze Bürde dessen, was ich wußte, nicht auferlegen konnte. Und wenn ich sah, wie sie mit der Smaragdkette spielte, überlief es mich kalt.
Ich zeigte ihr, wo ich meine Bücher versteckt hatte, unter dem Bett, und ich sagte ihr, daß sie eines Tages alles lesen müsse. Ich erzählte ihr von der geheimnisvollen Talamasca, von den Gelehrten in Amsterdam, die von dem Wesen wüßten; diese Männer könnten uns allerdings sehr gefährlich werden. Man dürfe nicht mit ihnen spielen. Ich beschrieb ihr seine Eitelkeit. Ich erzählte ihr, soviel ich konnte. Aber nicht die ganze Geschichte.
Das war das Entsetzliche. Mary Beth kannte die ganze Geschichte. Und Mary Beth hatte sich im Laufe der Zeit verändert. Mary Beth war eine Frau des zwanzigsten Jahrhunderts. Aber Mary Beth lehrte Stella, was Mary Beth für nötig hielt. Mary Beth gab ihr die Puppen der Hexen zum Spielen! Mary Beth gab ihr eine Puppe, die aus Haut, Fingernägeln und Knochen meiner Mutter gemacht war, und eine von Katherine!
Eines Tages kam ich die Treppe herunter und sah Stella auf ihrem Bett sitzen, die rosigen Beine gekreuzt. Sie hielt die beiden Puppen in den Händen und ließ sie miteinander sprechen.
»Das ist verkommen und töricht!« erklärte ich, aber Mary Beth zog mich fort.
»Komm schon, Julien, sie muß doch wissen, was sie ist. Es ist ein alter Brauch.«
»Das heißt nichts.«
Aber ich redete mit der Luft. Mary Beth war in den besten Jahren. Ich war fast tot. Ah, in dieser Nacht lag ich in meinem Bett, unfähig, den Anblick des kleinen Mädchens mit diesen nichtswürdigen Puppen aus meinem Gedächtnis zu verbannen, und fragte mich, wie das Unwirkliche vom Realen zu trennen sei und wie ich Stella vor diesem Teufel und allem, was da schief gehen konnte, warnen könnte.
Schließlich schlief ich tief und fest, und in der Nacht träumte ich wieder von Donnelaith und der Kathedrale.
Als ich aufwachte, sollte ich eine furchtbare Entdeckung machen – allerdings nicht sogleich.
Ich saß im Bett, trank meine Schokolade, las ein wenig, Shakespeare, glaube ich, denn einer meiner Jungen hatte mich kurz zuvor darauf hingewiesen, daß ich eines seiner Stücke noch nie gelesen hatte – ah ja, Der Sturm war es. Jedenfalls las ich ein wenig darin, und es gefiel mir sehr gut; es hatte Tiefe, wie die Tragödien Tiefe hatten, aber einen anderen Rhythmus und andere Regeln. Dann wurde es Zeit zum Schreiben.
Ich stieg aus dem Bett, kniete nieder und streckte die Hand nach meinen Büchern aus. Sie waren weg. Ihr Platz unter dem Bett war leer.
In einem entsetzlichen Augenblick wußte ich, daß sie für immer weg waren. Niemand in diesem Hause rührte meine Sachen an. Nur eine Person hätte gewagt, nachts in mein Zimmer zu kommen und diese Bücher wegzunehmen. Mary Beth. Und wenn Mary Beth sie weggenommen hatte, gab es sie nicht mehr.
Ich lief so hastig die Treppe hinunter, daß ich beinahe gestürzt wäre. Ja, als ich die Gartenfenster des Hauses erreichte, war ich so sehr außer Atem, daß mir vor lauter Seitenstechen und Kopfschmerzen übel wurde und ich die Dienstboten zu Hilfe rufen mußte.
Da kam Lasher selbst, umhüllte und stützte mich. »Sei ruhig, Julien«, sagte er mit seiner sanften Stimme. »Ich bin immer gut zu dir gewesen.«
Aber durch die Seitenfenster hatte ich bereits ein loderndes Feuer gesehen, in der hintersten Ecke des Gartens, abseits der Straße, und die Gestalt Mary Beths, die einen Gegenstand nach dem anderen hineinschleuderte.
»Halte sie auf«, hauchte ich. Ich konnte kaum noch atmen. Das Wesen war unsichtbar, aber überall um mich herum, und es hielt mich aufrecht.«
»Julien, ich bitte dich. Treibe es nicht noch weiter.«
Ich stand da und hatte Mühe, vor Schwäche nicht ohnmächtig zu werden, und ich sah die Bücherstapel im Gras, die alten Bilder, Gemälde aus Saint-Domingue, alte Ahnenporträts aus frühesten Zeiten. Ich sah die Rechnungsbücher und Journale und die Papierbündel aus dem alten Arbeitszimmer meiner Mutter, die Torheiten, die sie aufgeschrieben hatte. Und die Briefe
Weitere Kostenlose Bücher