Tanz der Hexen
gesammelt habe?«
»Julien, Julien«, sagte sie. »Du bist alt, und du träumst. Das Mädchen hat so etwas gesagt, weil sie vielleicht glaubte, daß sie dafür ein Geschenk bekommt, oder weil sie wollte, daß Carlotta geht. Das Mädchen ist praktisch stumm. Sie sitzt den ganzen Tag am Fenster und beobachtet den Verkehr auf der St. Charles Avenue. Manchmal singt sie oder redet in Versen. Sie kann sich nicht selbst die Schuhe zubinden oder das Haar bürsten.«
»Und dieser böse Tobias läßt sie nicht raus«, sagte Stella.
»Verdammt, ich habe genug gehört. Laßt mir meinen Wagen nach vorn bringen.«
»Du kannst nicht Auto fahren«, sagte Mary Beth. »Du bist zu krank. Oder willst du auf der Treppe in der Amelia Street sterben? Sei doch bitte so gütig und stirb bei uns in deinem Bett.«
»Ich bin noch nicht bereit zum Sterben, meine liebste Tochter«, erklärte ich. »Und jetzt sagst du den Burschen, sie sollen den Wagen vorfahren, oder ich gehe zu Fuß. Richard – wo ist Richard? Richard, hol mir frische Sachen. Ich werde mich in der Bibliothek umziehen. Ich kann nicht die Treppe hinaufklettern. Beeil dich.«
»Oh, du wirst ihnen wirklich eine Heidenangst einjagen«, frohlockte Stella. »Die werden glauben, du bist gekommen, um das Mädchen umzubringen.«
»Warum sollte ich das tun?« fragte ich.
»Weil sie stärker ist als wir, begreifst du das nicht? Onkel Julien, sieh auf das Vermächtnis, wie du es mir immer einschärfst. Hätte sie nicht die Möglichkeit, Anspruch auf alles zu erheben?«
»Bestimmt nicht«, sagte ich. »Nicht, solange Mary Beth eine Tochter hat und solange Stella, Mary Beths Tochter, auch eine Tochter hat. Keine große Chance.«
»Na ja, sie haben jedenfalls Vorkehrungen getroffen. Und sie verstecken das Mädchen, damit wir es nicht umbringen.«
Richard war mit meinen Sachen gekommen. Ich zog mich hastig an, sozusagen bis zum Stehkragen – in Anbetracht des feierlichen Anlasses. Ich schickte ihn nach meinem Reitmantel – mein Stutz Bearcat war ein offener Wagen, und die Straßen waren damals schlammig -, nach meiner Schutzbrille und meinen Handschuhen, und ich trieb ihn noch einmal zur Eile.
»Du kannst da nicht hingehen«, beharrte Mary Beth. »Du wirst ihn zu Tode erschrecken, und sie ebenfalls.«
»Wenn sie meine Enkelin ist, werde ich sie holen.«
Ich stürmte auf die vordere Veranda hinaus. Ich war wieder ganz der Alte, mit einem winzigen Unterschied allerdings, den nur ich selbst bemerkte: Ich hatte die Bewegungen meines linken Fußes nicht mehr vollständig unter Kontrolle. Er wollte sich beim Gehen nicht richtig biegen und vom Boden heben, und so mußte ich ihn ein bißchen schleifen lassen. Aber sie sahen es nicht, verdammt, sie wußten es nicht. Der Tod hatte mich einmal gezwickt. Der Tod kam. Aber ich sagte mir, mit diesem kleinen Gebrechen könnte ich noch einmal zwanzig Jahre leben.
Als ich die Vordertreppe hinunterging und mir von den Burschen ins Automobil helfen ließ, kletterte mir Stella auf den Schoß und hätte mich beinahe kastriert und zugleich umgebracht. Und aus dem Schatten unter den Eichen trat Carlotta.
»Wirst du ihr helfen?«
»Selbstverständlich«, antwortete ich. »Ich werde sie da rausholen. Du schreckliches, schreckliches Ding. Warum bist du nicht schon eher zu mir gekommen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Carlotta mit bestürzter Miene und gesenktem Kopf. »Was sie sah und was sie mir sagte, war entsetzlich.«
»Du hörst nicht auf die richtigen Leute. Los jetzt, Richard, fahr zu!«
Und es ging los, Richard steuerte in wilder Fahrt die St. Charles Avenue hinauf, daß Schlamm und Kies nur so spritzten, und fuhr an der Ecke St. Charles und Amelia Street schließlich in seiner unbekümmerten, amateurhaften Art geradewegs den Gehweg hinauf.
Stella half mir aus dem Wagen und sprang dann vor Aufregung auf und ab. Dies war eine ihrer ebenso lieb- wie aufreizenden Angewohnheiten, je nachdem, wie einem im entsprechenden Augenblick gerade zumute war.
»Schau, Julien, Darling!« rief sie. »Da oben im Dachfenster.«
Nun haben Sie dieses Haus ja zweifellos schon gesehen. Es steht ebenso fest und sicher da wie das Haus in der First Street. Und natürlich hatte ich es auch schon gesehen, aber ich hatte noch nie einen Fuß hineingesetzt. Ich wußte nicht einmal genau, wie viele Mayfairs dort wohnten. Für meinen Geschmack war es ein pompöses Haus. Es war ganz aus Holz, aber so angelegt, daß es wie ein Steinhaus aussah, wie das unsere. An der
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