Tanz der Hexen
und wollte der Tür befehlen, sich zu öffnen. Ich wußte nicht, ob ich es konnte, denn so etwas kann man nie mit Sicherheit voraussagen. Und ich spürte, daß Lasher in der Nähe schwebte, und fühlte auch seine Not und seine Verwirrung. Er mochte dieses Haus und auch diese Mayfairs nicht. Aye, sie sind nicht die meinen, die hier.
Aber bevor ich Lasher antworten oder ihn überreden oder die Tür selbst öffnen konnte, ging sie auf! Der Schlüssel fiel aus dem Schloß, von einer Kraft bewegt, die nicht die meine war, und die Tür schwebte auf und ließ den Sonnenschein auf die staubige Treppe fallen.
Ich wußte, daß es nicht meine Kraft gewesen war, und Lasher wußte es auch! Denn er sammelte sich dicht um mich, als habe er tatsächlich Angst.
Jetzt beruhige dich, Geist, denn du bist am gefährlichsten, wenn du Angst hast. Benimm dich. Es ist alles in bester Ordnung. Das Mädchen hat die Tür selbst geöffnet. Sei ruhig.
Aber da ließ er mich die Wahrheit wissen. Es war das Mädchen, das ihm angst machte! Natürlich versicherte ich ihm, daß sie keinerlei Bedrohung für unseresgleichen darstelle, und er solle bitte tun, was ich sagte.
Die Sonnenstrahlen ließen den wirbelnden Staub leuchten. Und dann erschien ein hoher, schmaler Schatten – ein Mädchen von großer Schönheit, mit vollem, glänzendem Haar und stillen Augen, die zu mir herunterstarrten. Sie sah schrecklich groß und schmal aus, vielleicht sogar ausgehungert.
»Komm herunter zu mir, mein Kind«, sagte ich. »Du siehst selbst, du brauchst keine Gefangene mehr zu sein.«
Sie verstand meine Worte, und als sie herunterkam, schweigend, Schritt für Schritt in ihren weichen Lederschuhen, da sah ich, daß ihre Augen sich bewegten; sie blickte über mich und nach rechts und links und über Stella, und sie sah das unsichtbare Ding, das sich um uns gesammelt hatte. Sie sah »den Mann«, wie sie sagen, sie sah den Unsichtbaren und machte kein Geheimnis daraus.
Unten an der Treppe drehte sie sich um und erblickte die ändern, und zitternd wich sie zurück! Noch nie hatte ich gesehen, daß jemand derart lautlos solche Angst zum Ausdruck bringen konnte. Ich griff nach ihrer Hand.
»Komm mit mir, mein Liebling. Du und du allein sollst entscheiden, ob du auf einem Dachboden leben willst.«
Ich zog sie an mich; sie leistete keinen Widerstand und zeigte auch kein Entgegenkommen. Wie seltsam sie wirkte, wie bleich und wie sehr an die Dunkelheit gewöhnt. Ihr Hals war lang und schlank, und sie hatte kleine Ohren und angewachsene Ohrläppchen, und dann sah ich an ihrer Hand das Mal der Hexe! Sie hatte den sechsten Finger an der linken Hand! Genau wie sie mir erzählt hatten. Ich war verblüfft.
Aber sie hatten gesehen, daß ich es sah. Großes Gezeter brach los. Die Onkel des Mädchens waren gekommen, Ragnar und Felix Mayfair, junge Männer, die in der Stadt bekannt waren und von denen man wußte, daß sie uns mit Argwohn betrachteten. Sie machten Anstalten, mir den Weg zu verstellen.
Aber im nächsten Augenblick war der Wind wieder aufgekommen. Alle spürten, wie er sich über den Boden stahl, eiskalt und stark. Er peitschte diejenigen, die mir im Weg standen, bis sie zurücktraten, und dann nahm ich das Mädchen bei der Hand und führte sie zurück in den vorderen Korridor und die Haupttreppe hinunter. Stella schlich neben mir her.
»Oh, Onkel Julien«, sagte sie atemlos wie ein Bauernmädchen zu einem großen Prinzen. »Ich bete dich an.«
Und mit uns ging dieser blasse Schwan von einem Mädchen mit ihrem schimmernden Haar, ihren spindeldürren Armen und reisigdünnen Beinen, in einem jämmerlichen Kleid, das aus einem geblümten Futtersack genäht war. Ich weiß nicht, ob Sie solche Kleidung je gesehen haben, bei den Ärmsten der Armen. Frauen benutzten diesen Stoff, um damit Steppdecken zu füttern, und sie hatte daraus einen Kittel, aus diesem billigen, geblümten Kattunstoff. Und ihre Schuhe waren kaum als Schuhe zu bezeichnen; es waren eher lederne Strümpfe, geschnürt wie Babystiefelchen!
Ich führte sie durch den Flur; der Wind rüttelte an den Türen und ließ sie hin und her schwingen, und er wehte vor uns her und brachte die Eichen draußen in Bewegung und strich über die vielen Autos und Kutschen und Karren, die auf der Avenue vorüberfuhren.
Niemand versuchte uns aufzuhalten, als ich sie an Richard übergab, damit er sie ins Auto hob. Dann setzte ich mich dicht neben sie, nahm Stella wieder auf die Knie und befahl Richard, loszufahren.
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