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Tanz der Hexen

Tanz der Hexen

Titel: Tanz der Hexen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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verzierten Türbogen aus Zypressenholz hindurch. Vielleicht sollte er ihr vorlesen, ganz leise. Vielleicht ein wenig das Radio einschalten. Oder Juliens Victrola spielen lassen. Die gehässige Schwester, die das Victrola nicht leiden konnte, war nicht mehr da.
    Er konnte die Schwestern auch aus dem Zimmer schicken, nicht wahr? Allmählich war es ihm klargeworden. Brauchen wir diese Krankenschwestern?
    Er sah sie tot. Er sah sie grau und kalt und am Ende. Er sah sie begraben, mehr oder weniger. Nicht das ganze detaillierte Bild. Nur das Konzept, schlaglichtartig – ein Sarg, der in eine Gruft glitt. Wie bei Gifford. Nur würde sie hier begraben werden, auf ihrem Friedhof am Rande des Garden District, und er könnte jeden Tag hinspazieren und seine Hand an die Marmorplatte legen, die nur zehn, zwölf Zentimeter von ihrem weichen dunkelblonden Haar entfernt war. Rowan. Rowan.
    Denken Sie daran, mon fils.
    Er drehte sich um. Wer hatte das gesagt? Der große, lange Flur war hohl und leer und ein bißchen kalt. Im Eßzimmer war es ganz dunkel. Er lauschte, nicht nach realen Geräuschen, sondern nach übernatürlichen Lauten, nach der Stimme. Ja, ich werde daran denken.
    »Ja, das werde ich«, sagte er.
    Stille. Um ihn herum Stille, die seine Worte umhüllte und laut werden ließ. Scharf klangen sie in der Stille, wie eine Bewegung, wie ein jähes Absinken der Temperatur. Stille.
    Es war überhaupt niemand da. Niemand im Eßzimmer. Niemand oben an der Treppe. Er sah, daß in Tante Vivians Zimmer kein Licht mehr brannte. Niemand telefonierte. Leer. Dunkel.
    Und dann dämmerte es ihm. Er war allein.
    Nein, das konnte nicht sein. Er ging zur Haustür und öffnete sie. Niemand am schwarzen Eisentor. Niemand auf der Veranda. Niemand auf der anderen Straßenseite. Nur die feierliche, leere Stille des Garden District, verlassen wie eine Ruinenstadt im reglosen Schein der Straßenlaterne. Die weichen Büschel des Eichenlaubes. Das Haus lag so still und unbelebt wie damals, als er es zum ersten Mal gesehen hatte.
    »Wo sind sie?« Er fühlte den jähen Schub der Panik. »O Gott, was geht hier vor?«
    »Michael Curry?«
    Der Mann stand links von ihm. Im Schatten, beinahe unsichtbar, bis auf das blonde Haar. Er trat vor. Er mußte etwa fünf Zentimeter größer sein als Michael. Michael schaute ihm in die hellen Augen.
    »Sie haben nach mir geschickt?« fragte der Mann leise und respektvoll. Er streckte die Hand aus. »Mein Beileid, Mr. Curry.«
    »Nach Ihnen geschickt? Was soll das heißen?«
    »Sie haben den Priester gebeten, mich im Hotel anzurufen; Sie haben mich herbitten lassen. Es tut mir leid, daß es zu Ende ist.«
    »Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Wo sind die Wachleute, die hier waren? Wo ist der Posten, der am Tor gestanden hat? Wo sind sie alle geblieben?«
    »Der Priester hat sie fortgeschickt«, sagte der Mann behutsam. »Nachdem sie gestorben war. Er hat mir am Telefon gesagt, daß er sie wegschickt. Ich möge bitte herkommen und vor der Haustür auf Sie warten. Es tut mir leid, daß sie gestorben ist. Ich hoffe, sie hat weder Schmerzen noch Angst haben müssen.«
    »O nein, das träume ich. Sie ist nicht tot! Sie ist oben. Was für ein Priester? Hier ist kein Priester! Aaron!«
    Er drehte sich um und spähte in die tiefe Dunkelheit des Hausflurs; im ersten Augenblick konnte er den roten Teppich auf der Treppe nicht erkennen. Dann stürmte er los, nahm die Treppe in großen Sätzen und rannte auf die geschlossene Zimmertür zu.
    »Gottverdammt, sie ist nicht gestorben! Das stimmt nicht! Sie hätten es mir gesagt!«
    Als er den Türknauf packte und merkte, daß er die Tür nicht aufbekam, schickte er sich an, sie mit der Schulter einzurennen.
    »Aaron!« brüllte er.
    Ein Klicken von innen. Der kleine Knauf drehte sich. Die Tür sprang einen Spaltbreit auf, wie aus eigenem Antrieb. Jede Tür hat ihr eigenes Tempo, ihren eigenen Rhythmus, ihre eigene Art, sich zu öffnen und zu schließen. Türen in New Orleans sind dabei nie sehr ordentlich oder effizient. Im Sommer quoll diese Tür auf und ließ sich nie richtig schließen. Jetzt öffnete sie sich tänzelnd.
    Er starrte hinein, auf die weiße Holztäfelung. Die Kerzen leuchteten wie zuvor. Flackerschein auf dem Seidenbezug des Oberbetts, auf dem marmornen Kamin.
    Aaron sprach mit ihm. Aaron nannte hinter ihm einen Namen. Er klang russisch.
    Und der blonde Mann sagte leise: »Aber er hat nach mir verlangt, Aaron. Er hat mich rufen lassen. Der Priester hat es mir

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