Tanz der Kakerlaken
Durch die Fliegentür des Schlafzimmers der Frau kam das Geräusch der Morgenbrise, und dann waren die Vögel, Hühner und das sonstige Geflügel zu hören, die ihre Morgenständchen darbrachten. Durch das Glas vor dem Zifferblatt der Uhr konnte Tish sehen, wie die Frau sich im Bett umdrehte, aufwachte und dann langsam Ihre Füße aus dem Bett auf den Boden schwang.
»Siehe!« signalisierte Tish. »Die Frau, Göttin des Parthenon, erwacht und steht auf.«
»Ja«, signalisierte Sam. »Sieh mal, wie Sie die ebene Fläche unter Ihrem Bett mit dem linken Krabbler zuerst berührt.«
»Warum tut Sie das?«
»Vielleicht«, signalisierte Sam lächelnd, »ist es eine abergläubische Beschwichtigungsgebärde –«, die großen Worte bereiteten ihm Schwierigkeiten, »– dem Schicksal-Ding gegenüber.« Dann buchstabierte er mit Schnüffelruten und Fühlern den Namen der Frau. »Ihr Name ist Sharon. S-H-A-R-O-N.«
»Sharon«, wiederholte Tish. »Ich habe den Mann nach Ihr rufen hören.« Sie sah zu, wie die Frau Ihr Nachthemd abstreifte und das rote, mit Blumen bedruckte Hemd und die Jeans anzog, die sie den Tag über tragen würde. »Sie ist so hübsch und schön und reizend«, signalisierte Tish.
»Und einsam«, signalisierte Sam. Das Zeichen für »einsam« bestand darin, die Spitze der rechten Schnüffelrute über die Lippen nach unten zu ziehen, fast wie bei dem »Pst!«-Zeichen, so daß es an »still und allein« gemahnt. »Soll ich dir eine Geschichte über Sharon erzählen?« Ihr Zeichen für »Geschichte« hatte anfangs darin bestanden, mehrmals in rascher Folge die Spitzen der Schnüffelruten zu verschränken und wieder zu lösen, aber nun, da sie das Wort mehrmals untereinander benutzt hatten, stellten sie fest, daß sie unbewußt die eigenen Schnüffelrutenspitzen mit denen des anderen verschränkten, um das Zeichen zu machen.
»Oh, bitte, erzähl mir eine Geschichte!« bat Tish, indem sie mit ihren eigenen seine Schnüffelruten umfaßte.
Sharon, so erklärte Sam, war die Enkelin einer Halbgöttin namens Latha, die früher einmal hier gewohnt hatte, jetzt aber jenseits von Stay More lebte. Latha war sehr alt, aber noch schöner als Sharon, und während der Zeit vor vielen Äonen, als sie den Parthenon bewohnt hatte, hatte sie ebenfalls allein gelebt und war einsam und von Sehnsucht ergriffen gewesen, und der Parthenon war von dem glückbringenden Geruch nach Sehnsucht erfüllt gewesen. Ein Mann aus ihrer Vergangenheit, mit dem Namen Anders, so wie in so oder anders, ein anderer Mann, nicht mit dem jetzigen Mann von Stay More verwandt, war in die Stadt zurückgekehrt und in die sagenhaftesten Geschichten verwickelt gewesen, an die Tish Sam unbedingt würde erinnern müssen, aber nicht jetzt.
Dies hier ist die Geschichte von Sharon, die sich entschloß, nach Stay More zurückzukehren, wo Sie den größten Teil Ihrer Jugend verbracht hatte, und nicht nur nach Stay More zurückzukehren, sondern in ebendiesen Parthenon hier einzuziehen. Wartete auch Sharon darauf, daß ein Mann aus Ihrer Vergangenheit auftauchte und zu Ihr kam? Wenn ja, war es derselbe Mann, der jetzt hier lebte, Larry? Wenn dem so war, warum weigerte sich Sharon dann, noch irgend etwas mit Larry zu tun zu haben?
»Und? Und?« signalisierte Tish. »Weiter. Weiter!«
»Das ist alles, was wir im Augenblick wissen«, signalisierte Sam. »Die Geschichte geht weiter. Wie die Geschichte von dir und mir.«
Falls Tish die Anspielung, die in dieser Folge von Gesten lag, mitbekam, so ließ sie sich nichts anmerken. Sie schien sich selbst zu signalisieren: »Larry ist also der Name unseres Mannes?« Ihn jetzt bei einem Namen nennen zu können ließ Ihn irgendwie kleiner erscheinen. Die Frau dagegen, Sharon, büßte nichts an Größe ein. Tish beobachtete, wie Sharon durch Ihr Schlafzimmer in einen kleinen Nebenraum ging und sich auf einem Hocker aus glänzendem weißen Porzellan setzte.
»Was macht Sie da?« erkundigte sich Tish.
»Sie sitzt auf einem Gerät, das sich Toilette nennt«, erklärte Sam in Zeichensprache, etwas zögerlich, als wäre ihm der Vorgang unangenehm. »Hörst du?« fragte er. Obwohl er taub war, erinnerte er sich daran, wie er das Geräusch früher, als sein Gehör noch intakt gewesen war, gehört hatte. Tish lauschte und hörte es: ein helles Plätschern, wie von Regen. Sie blickt Sam verwirrt an, und Sam signalisierte: »Sie macht Wasser.«
»Oh, Wasser!?« rief Tish in Zeichensprache aus. Dann stellte sie eine Frage: »Hat
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