Tanz der Kakerlaken
nur nach Sorten und Zuckergehalt aufgereiht und katalogisiert waren, sondern auch nach Alter, ebenso wie nach Knusprigkeit und Krümeligkeit, und viele waren älter als sie selbst, älter gar als er! Sie wählte etwas von einem gut ausgereiften Prinzenkeks, verzehrte es mit Genuß und ließ dann die verschiedensten Pröbchen von Pudding, Pralinen, Zuckergußsplittern und Meringuebröseln folgen. Sie bemerkte, daß an einer Wand der Uhr die sechs abgestoßenen Häute des Hausherrn, Junker Sams, hingen: Die Häute waren der Größe nach aufgehängt und reichten von einer des ersten Stadiums, die kaum größer als ihr Kopf war, bis zu einer des sechsten Stadiums, die so groß war wie sie selbst und ihm beinahe noch passen mußte. Warum hatte er sie aufgehoben? Bestimmt nicht, um sie zu essen. Als Andenken an seine Kindheit?
Tish trat aus der Uhr, um ihre Morgentoilette zu machen, und putzte sich gründlich auf dem Rand des Kaminsimses, während sie den Blick durchs Zimmer schweifen ließ, Wohn- und Schlafzimmer der Frau, in dem Sharon sich momentan nicht befand. Alles sah behaglich und anheimelnd aus, wie Tish in der Nacht zuvor gedacht hatte – war das wirklich erst eine Nacht her?
Ein schrecklicher Lärm ließ Tish fast vom Kaminsims stürzen. Es war nicht die Uhr. Die Uhr hatte vor ein paar Minuten fast höflich »NOUGAT« gesagt, und Tish gewöhnte sich allmählich an die Dinge, die die Uhr von sich gab. Diesen schrillen Lärm aber sonderte ein riesenhaftes schwarzes Insekt ab, das auf einem kleinen Tisch neben dem Bett der Frau hockte. Das durchdringende Klingeln hielt eine volle Sekunde lang an, bevor es abrupt aufhörte, aber Tish hatte kaum Zeit gehabt, sich in der Uhr in Sicherheit zu bringen, als schon eine weitere lange Salve desselben gellenden Geschreis ausgestoßen wurde. Sie stand wie gelähmt da und starrte das fremdartige Wesen an. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Eigentlich waren es zwei Wesen: eine riesige Holzameise, die auf dem Rücken eines riesigen Nashornkäfers saß. Ja, vielleicht war die Ameise gerade dabei, den Käfer umzubringen, und das hartnäckige gräßliche Getöse war das verzweifelte Schmerzgeheul des verwesternden Käfers. Sam weckten die Schreie nicht, aber er war ja auch taub. Tish war versucht, ihn wachzurütteln. Ein drittes Mal heulte der große Käfer jetzt um Gnade, und Sharon, die Frau Selbst, kam ins Zimmer, packte die riesige Ameise und riß sie dem Käfer vom Rücken. Aber dann, anstatt den armen Käfer zu trösten, hielt Sie die Ameise zärtlich an Ihre Wange und sagte zu ihr: »Hallo, Omi.« War die Ameise Sharons Großmutter?!? Die Ameise sprach mit Sharon, aber Tish konnte die Worte der Ameise nicht verstehen. Sharon setzte sich auf die Bettkante, die Ameise immer noch an Ihre Wange haltend, und hörte ihr eine lange Weile zu, dann sagte Sie: »Ja, im Radio haben sie's auch gesagt, aber bis jetzt ist davon noch nichts zu merken, oder?« Dann lauschte Sie wieder den Worten der Ameise und sagte: »Ich hab versucht, es zu ölen, aber es klemmt immer noch.«
Die Ameise, so stellte Tish fest, besaß weder Schnüffelruten noch Krabbler. Sie hatte einen Kopf und einen Thorax und ein Abdomen und einen langen, langen Schwanz, welcher an dem Käfer befestigt war! Sie sagte noch etwas zu der Frau, die antwortete: »Nein, aber ich hab gestern wieder einen Brief von ihm gekriegt, und der hat mir glatt den Atem verschlagen. Er hat noch nie so schön geschrieben, und wenn er betrunken sein muß, um so zu schreiben, dann soll er ruhig betrunken bleiben! Ich mußte mich echt davon abhalten, gleich rüberzurennen und ihm um den Hals zu fallen!«
Die Ameise redete lange auf Sharon ein, die nur gelegentlich ein »Ja, Omi«, »Das weiß ich doch, Omi« oder »Du hast ja recht, Omi« beisteuerte. Schließlich sagte Sharon: »Immerhin habe ich was getan, was ich bisher noch nie getan habe: Ich habe ihm zurückgeschrieben. Nein, ich hab ihn noch nicht eingeworfen. Wo sollte ich ihn einwerfen? Ach ja? Aber heute ist Sonntag, oder? Wo? Ach, ist das sein Briefkasten, dieses Ding? Na ja, ich schätze, ich könnte ihn einfach da rein werfen, aber würde er ihn finden? Ich hab das Gefühl, ich habe ihm was zu sagen, und vielleicht ist dies der einzige Weg. Ich glaube, er erwartet eine Antwort. Ich hab ihm in dem Brief gesagt, wenn er nur eine Woche lang ohne was zu trinken auskommen könnte, würde ich zu ihm kommen und mit ihm reden. Ich weiß nicht. Was? Ich müßte ihm wohl einfach
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