Tanz der Kakerlaken
sei es nur, daß sie ihm half zu verstehen, was in der Welt passierte, als seine Ersatzschwanzreifen sozusagen, ihm in Zeichensprache »übersetzte«, was andere sagten. Aber wo war Tish? Und wo war Sharon, die sich sonderbarerweise nicht in Ihrem Zimmer aufgehalten hatte, als er zum letztenmal dort gewesen war?
Sam hielt seine Schnüffelruten auf das Zimmer ausgerichtet, in dem er sich befand. Das Kommen und Gehen der Knackerlaken unter ihm wurde dumpf von seinem Geruchssinn wahrgenommen. Er verlor das Gefühl für Zeit. Er schlief, sogar nachts, was er noch nie zuvor getan hatte. Und er schlief natürlich den ganzen Tag über. Er hatte einen Traum – ob einen Tag- oder Nachttraum, wußte er nicht – von Tish, die Kapitän eines Schiffes war. Als er aufwachte, versuchte er ihn zu deuten: Sie hatte auf dem Achterdeck einer Brigantine oder dergleichen dem Bootsmann Befehle erteilt. Das Schiff wurde von den Wellen hin und her geworfen und war in Gefahr, gegen Felsen geschmettert zu werden. Vielleicht hieß das Schiff Schicksal-Ding, obwohl Sam den Namen am Bug in seinem Traum nicht deutlich lesen konnte. Das Schiff wimmelte von Matrosen, die sich bemühten, die Befehle des Bootsmanns auszuführen, die dieser von Kapitän Tish weitergab. War der Bootsmann Archy Tichborne? Nein, er war jünger. Sam schlief wieder ein und versuchte, dem Traum zu folgen, aber er trieb flußabwärts vor ihm davon.
Er erwachte wieder und sah eine Szene, die noch mehr in einen Traum zu gehören schien; wieder ein Gewimmel von Matrosen, aber sie flitzten nicht über das Deck eines Schiffes, sondern über einen Körper – den des Mannes. Der Kapitän war nicht Tish, sondern Junker Hank, und der Bootsmann war Doc Swain. Die Matrosen, so erkannte Sam, waren allesamt Nichtchrusten, so daß die Pietätlosigkeit ihres Gebarens sie nicht an ihrem Tun hinderte: Sie versuchten, den Mann aufzuwecken. Die krochen Ihm übers Gesicht, drängelten sich durch das Dickicht Seines Bartes, kitzelten Ihn an den Augenlidern, trampelten in Seinem aufgerissenen Mund aus und ein, krochen Ihm in die Nasenlöcher und zu den Ohren hinein und heraus. Sicherlich konnte Ihn solch unerträgliches Kitzeln nicht ungerührt lassen. Junker Hank brüllte Befehle und trieb sie an, obwohl seine Stimme nicht bis an Sams verwesterte Schwanzreifen reichte. Aber die Wirkung auf den Mann war gleich Null, bis auf ein ganz leises unwillkürliches Zucken der Gesichtsmuskeln. Der Mann war also noch nicht völlig im Westen. Um alle zu verstärkten Anstrengungen anzustacheln, stürzte sich Junker Hank selbst mitten in das wilde Treiben, erklomm Larrys Lippe und verschwand in Seinem Mund.
Sam entdeckte, daß er selbst jetzt aufgestanden war, obwohl er sich schwach auf seinen Krabblern fühlte. Er stand da und feuerte seinen Vater nach Leibeskräften an.
Urplötzlich klappten des Mannes Kiefer zu.
Viertes Stadium: Die Folgen
25.
Doc war ratlos. Die Haut des Patienten war feucht, klebrig und kalt, und in dem bißchen Licht, das von der Leselampe darauf fiel, hatte sie eine ausgesprochen morbide gräuliche Färbung. Der Puls des Patienten war schwach, aber sehr schnell, so schnell, daß die Pausen zwischen den Schlägen kaum auszumachen waren: mehr ein Summen als ein Pulsschlag. Die Atmung des Patienten ließ sich kaum wahrnehmen. Es lagen alle Symptome eines Schocks vor, aber, so gestand Doc sich unumwunden ein, er hatte keine Erfahrung mit Schocks bei menschlichen Wesen, und der Schock hat bei Knackerlaken ganz andere Folgen. Gut möglich, daß dieses hier die Anzeichen eines durch Trunkenheit verschlimmerten Schocks waren, oder umgekehrt. Wie auch immer der genaue Zustand und seine Diagnose aussehen mochten, der Patient hatte jetzt, zusätzlich zu seinen anderen Traumata und pathologischen Symptomen, eine Periplaneta in der Mundhöhle eingeschlossen, irgendwo zwischen den Gaumenpapillen, oder der Raphe palati, und dem Sulcus terminalis linguae. Nach Docs Einschätzung bestand die akute Gefahr darin, daß der Patient unwillkürlich schlucken könnte, mit unvorteilhaften Folgen, sowohl für den Patienten als auch für die Periplaneta, die in der Speise- oder, schlimmer, der Luftröhre landen könnte … oder, noch schlimmer, jedenfalls für die Periplaneta, im Magen. Selbst wenn die Periplaneta in der vorderen Mundhöhle blieb, wurde die Prognose verkompliziert durch die Möglichkeit, daß Bacillus tetani in die Schußwunde des Patienten gedrungen war und binnen
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