Tanz der Kakerlaken
achtundvierzig Stunden tetanospasmische Toxine freisetzen könnte, die zu einer Verkrampfung der Kiefermuskulatur, der sogenannten Kieferklemme, führen könnten. Doc suchte nach Anzeichen des risus sardonicus, dem sardonischen Lachen, das manchmal in den frühen Stadien der Krankheit zu beobachten ist, aber die besondere Verzerrung des Mundes des Patienten konnte auch das Resultat eines natürlichen sardonischen Lachens sein und nicht der Beginn einer Kieferklemme.
Als Doc sich die Konstellation des Lächelns aus der Nähe ansah, kam ihm der Gedanke, »HEY, HANK, SIND SIE DA DRIN?« zu brüllen, aber Zähne und Lippen des Patienten waren so fest zusammengepreßt, daß kein Laut durchdringen konnte. Ebensowenig konnte Doc mit seinen Schnüffelruten den Geruch des Junkers ausmachen, denn der wurde von den Gerüchen nach Whisky, ungeputzten Zähnen, Nikotin und einem allgemeinen Fluidum aus Westlichkeit überlagert.
Sollte man die Anstrengungen, den Patienten aufzuwecken, fortsetzen? Bislang war alles fehlgeschlagen, einschließlich des Versuchs des Junkers selbst, das Innere des Mundes des Patienten zu reizen. »Jungs, wir können genausogut eine Pause machen«, rief Doc seinen Helfern zu, die immer noch auf dem Gesicht des Mannes herumkrabbelten. Wenn der Patient zu plötzlich aufwachte, würde er womöglich nach Luft schnappen und dabei einen Sog erzeugen, der Junker Hank mit sich in die Tiefe reißen würde. Besser, die Sache im Auge zu behalten und nachzudenken, sagte sich Doc.
Stunden vergingen. Doc fragte sich, was sein Freund, der Junker, wohl machte. Wenn ich an seiner Stelle wäre, sagte sich Doc, würde ich hampeln und strampeln und Saltos schlagen und womöglich Flickflacks machen. Aber so wie er Junker Hank kannte, bewahrte der wahrscheinlich die Ruhe, verhielt sich so still wie möglich, um nur ja den Mann nicht zum Schlucken zu veranlassen. Das – oder er befand sich bereits im Magen des Mannes und wurde langsam von den Säften dort zersetzt. Selbst wenn er nicht verschluckt worden war, mochte Junker Hanks Leib von Speichelsekretion überflutet worden sein und wurde womöglich sogar von dem Enzym Ptyalin zerlegt.
Eine Möglichkeit kam Doc schließlich in den Sinn: Vielleicht fehlten dem Mann ein oder zwei Zähne. Dann müßte man herausfinden, wo der Zahn fehlte, und könnte die Lippen an dieser Stelle mit den vereinten Kräften aller Helfer vielleicht weit genug auseinanderdrücken, daß Junker Hank sich hindurchzwängen konnte. Der Körperbau der Knackerlaken ist schließlich dafür geschaffen, sich so flach zu machen, daß sie sich durch schmalste Öffnungen hindurchzwängen können. Aber fehlte dem Mann ein Zahn?
Doc schickte seine Helfer aus; sie sollten die Nachricht überall im Heiligen Haus und in Carlott verbreiten und fragen, ob jemand das Gesicht des Herrn von nahe genug gesehen hatte, um sagen zu können, ob Ihm ein Zahn fehlte oder nicht. Mehrere Knackerlaken berichteten, ja, sie hätten erst neulich das Gesicht des Herrn gesehen, als Er im Gras von Carlott lag, doch seien Seine Zähne nicht sichtbar gewesen. Man fand einen Burschen, der behauptete, er sei eines Morgens noch wach gewesen, als sich der Herr in Seinem Badezimmer die Zähne putzte, aber er habe die Zähne nicht sehen können, weil sie alle von weißem Zahnpastaschaum bedeckt gewesen seien.
Jemand meldete, im Sinnierzimmer gebe es ein Bild des Herrn an der Wand, auf dem Er lächle und Seine Zähne zeige. Doc ging selbst nachschauen, nachdem er seine Helfer instruiert hatte, den Adamsapfel des Mannes gut im Auge zu behalten für den Fall, daß der Mann Anstalten machte, zu schlucken. Doc war nie zuvor im Sinnierzimmer gewesen, und er war beeindruckt. Die Wände waren voller Bücher, mehrere Aktenschränke reichten fast bis zur Decke, und von dem großen Eichenschreibtisch des Mannes starrte aus seinen fünfzig Augen das schwarze Geschöpf, das »Schreibmaschine« genannt wurde. Tatsächlich waren an einer Wand mehrere Bilder hinter Glas, Ikonen, Konterfeis des Mannes allein und des Mannes mit anderen Männern und Frauen, des Mannes inmitten von Reihen anderer Männer, des Mannes mit einem Kind im Arm, des Mannes bei einem Vortrag, den Er in einer Art Arena hielt. Nur auf diesem Bild stand der Mund des Mannes offen, Seine Zähne jedoch waren nicht zu sehen. Aber ein Porträt gab es, das einzige Bild, auf dem der Mann allein zu sehen war, auf dem der Mann lächelte und Seine Zähne sichtbar waren, Seine Vorderzähne
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