Tanz der Sinne
Familie, als er neun oder zehn war.«
Wenn man das Bild betrachtete, wußte man, daß dies eine wirkliche Familie gewesen war, nicht einfach eine Verbindung zwischen zwei Adelshäusern. Der Beweis lag in der zärtlichen Geste, mit der die Gräfin ihre Hand auf den Arm ihres Gatten legte, dem liebevollen Blick, mit dem der Graf Frau und Kinder betrachtete, den lachenden Gesichtern von Lucien und dem feenhaften Mädchen, dem silberblondes Haar über die Schultern floß. Der Anblick schnürte Kit die Kehle zu. Lucien hatte soviel verloren, und er war noch so jung gewesen. Und doch war er dadurch stark geworden. Leise fragte sie: »Kannten Sie seine Familie gut?«
»Ziemlich.« Er betrachtete das Gemälde mit entrücktem Blick. »Ich hatte nie Lust, die Ferien bei meiner eigenen Familie zu verbringen, deswegen haben meine Freunde mich zu sich mitgenommen wie einen streunenden jungen Hund. Ashdown war mein Lieblingsaufenthalt, weil Luciens Eltern so glücklich miteinander waren.
Das ist nicht gerade häufig.«
Kits Blick wanderte zu dem kleinen blonden Mädchen, dessen strahlendes Lächeln die Jahre überdauert hatte. »Und Lady Elinor?«
»Sie war bezaubernd«, sagte er schlicht. »Klug und süß und grazil. Sie und Lucien hatten ein bemerkenswertes Verhältnis zueinander. Meiner Erfahrung nach sind nicht alle Brüder und Schwestern einander so nahe, aber ich glaube, ihre zarte Gesundheit schmiedete sie zusammen.
Er hat sie sehr beschützt. Ihr Tod war eine Katastrophe für ihn.«
In seiner Stimme lag ein Ton, der sie aufblicken ließ. »Und für Sie?«
Nach langem Schweigen erwiderte er: »Ich habe sie alle vermißt, aber Elinor ganz besonders. Sie sah zwar aus wie ein Engel aus Zuckerwatte, aber sie war eine sehr energische junge Dame. Bei meinem ersten Besuch in Ashdown entschied sie, daß wir zueinander paßten, und teilte mir mit, daß wir heiraten würden, sobald wir mündig wären.
Ich habe ihren Antrag bereitwillig angenommen.«
Nach einem weiteren langen Schweigen sagte er:
»Wenn sie am Leben geblieben wäre…« Er wandte sich abrupt ab. »Natürlich war das alles kindisches Gerede. Es hatte nichts zu bedeuten.«
Offenbar bedeutete es sehr viel, selbst nach so vielen Jahren. Die Geschichte erweckte Elinor für Kit zum Leben. Sie mußte genauso klug gewesen sein wie ihr Bruder, denn selbst als kleines Mädchen war sie imstande gewesen, einen Jungen zu erkennen, der zu einem bewundernswerten Mann heranwachsen sollte. »Vielen Dank, daß Sie mir soviel erzählt haben, Michael. Ich möchte so viel wie möglich über Luciens Vergangenheit erfahren.«
Er sah sie durchbohrend an. »Meine Dienste sind nicht kostenlos, Kit. Eine Bitte: versuchen Sie, ihm nicht weh zu tun. Luce verdient etwas Besseres.«
Ihr stockte der Atem bei dieser unerwarteten Bemerkung. »Glauben Sie mir, das Letzte, was ich möchte, ist, Lucien wehzutun.«
Was immer er in ihrem Gesicht las, es schien ihn zu beruhigen. Zu der früheren Leichtigkeit zurückkehrend sagte er: »Da hinten ist ein Porträt des siebten Grafen. In den Augen der Gesellschaft hat er sich unmöglich gemacht, weil er Handel trieb, aber er wurde dadurch entschuldigt, daß er damit ein Vermögen gemacht hat.«
Exzentrische Verwandte waren wesentlich einfacher zu handhaben als verschwundenes Glück.
In dieser Nacht besuchten Kit und ihre mittlerweile drei Begleiter Maces Besitz, Blackwell Abbey. Sie hatten damit bis jetzt gewartet, weil Kit schon einmal dagewesen war und keine Spur von Kira entdeckt hatte, aber das Areal war so groß, daß sie es vom Haus aus unmöglich ganz erforschen konnte.
Wie bei den anderen Anwesen hatte Lucien auch diesmal eine genaue Karte dabei, diesmal von der Hand eines Anwohners, der dort gearbeitet hatte.
Sie zeigte jedes Bauernhaus, jedes Feld, jeden Weg und die Steinmauer, die das gesamte Anwesen umgab.
Bevor sie sich auf den Weg machten, hatten sie einzeln die Karte studiert, so daß sie ihren Weg im Dunkeln finden konnten, ohne gesehen zu werden. Selbst so wäre die Suchaktion ohne Michael nicht möglich gewesen. Er hatte nicht nur eine katzengleiche Fähigkeit, im Dunkeln zu sehen, sondern auch ein untrügliches Erinnerungsvermögen für Landkarten. Wie ein Spähtrupp in feindlichem Gebiet führte er sie auf einer weitausgreifenden Fährte, die Kit auf hundert Meter an jeden Teil des Grundstücks heranführte.
Lucien blieb an ihrer Seite und paßte auf, daß sie nicht stolperte. Ihre Aufmerksamkeit war eher nach innen
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