Tanz der Sinne
wäre, daß es ihm gelingen würde, Freude zu schenken und zu empfangen und am nächsten Morgen mit einem Lächeln auf den Lippen zu erwachen. Aber er hatte sich immer getäuscht.
Sein Blick wanderte zu der gerahmten Kohleskizze von ihm selbst und seiner Schwester Elinor. Sie war zwei Jahre vor ihrem Tod entstanden. Der Künstler war nach Ashdown gekommen, um ein formelles Porträt der gesamten Familie anzufertigen. Das Gemälde war gelungen, und es hatte einen Ehrenplatz, aber Lucien zog die Skizze vor, die Elinors scheuen, zerbrechlichen Charme besser einfing.
Er studierte die beiden einander dicht zugeneigten, blonden Köpfe. Sie hatten den sorglosen Ausdruck von Kindern, deren Eltern sie innig liebten und die niemals Sorge oder Grausamkeit kennengelernt hatten. Manchmal war es schwer, sich daran zu erinnern, daß er jemals glücklich gewesen war.
Mit angespanntem Gesicht beugte er sich wieder über seine Werkbank und griff nach seinem feinsten Schraubenzieher. Wenn er sich genug konzentrierte, konnte er seine Gedanken ablenken.
Kit hatte geduldig nach Henry Jones’ Anweisungen geübt, und es dauerte nur ein paar Minuten, bis sie das einfache Schloß an den französischen Fenstern aufgebrochen hatte. Sie schlüpfte in die dunkle Bibliothek und hielt den Atem an, um aufmerksam zu lauschen. In der Ferne ertönte helles Kichern. Lord Chiswick war alles andere als ein schlechter Gastgeber, er hatte extra zehn Prostituierte aus London kommen lassen, um seine Gäste zu unterhalten. Der Abend war noch jung, sie würde genug Zeit haben, die Gästezimmer zu durchsuchen.
Sie machte Fortschritte als Kriminelle. Dieses Mal hatte sie nur Angst, statt vor Panik zu zittern.
Leise schlich sie die Hintertreppe zu den Gästezimmern hoch. Diesmal war es ihr nicht gelungen, eine Stelle als Zimmermädchen zu bekommen, aber ihre Erkundigungen im Dorf hatten sie zu einem ehemaligen Diener Lord Chiswicks geführt. Gegen eine bescheidene Summe hatte der Mann, der in Ungnaden entlassen worden war, ihr die Gepflogenheiten des Haushaltes beschrieben und einen Grundriß des Hauses gezeichnet. Er hatte ihr auch erzählt, daß Chiswick immer Prostituierte zu seinen Gesellschaften einlud, zum Entsetzen der gesamten Nachbarschaft.
Dadurch war Kit auf die Idee gekommen, sich als Freudenmädchen verkleidet ins Haus zu schleichen und ihre Nachforschungen fortzusetzen. Eine blonde Perücke und eine mäßigere Version der Polster und Schminke, die sie als Sally getragen hatte, verwandelte sie in eine waschechte Hure. Jeder Gast, der sie sah, würde annehmen, sie sei Bestandteil von Chiswicks Abendprogramm.
Sie runzelte die Stirn, als sie sah, daß diesmal keine Karten die Inhaber der Gästezimmer identifizierten. Sie würde nach Hinweisen suchen müssen.
Mit feuchten Händen schlüpfte sie in den ersten Raum.
Lucien wußte, daß die Orgie begann, als die üppige Rothaarige neben ihm auf seinen Schoß kletterte. »Du siehst einsam aus, Häschen«, gurrte sie. »Komm, Lizzie kann dich trösten.« Sie schlang ihm die Arme um den Hals und gab ihm einen weinduftenden Kuß.
Sie war eine entzückende Last, die ihn an das Schankmädchen Sally erinnerte, wenn der Schnitt von Lizzies Kleid auch keinen Zweifel daran ließ, daß ihre Kurven echt waren. Der Kuß zog sich in die Länge, und er erwog, ihr Angebot anzunehmen. Es war lange her, seit er eine Frau besessen hatte – zu lange. Vielleicht würde Lizzies heitere Direktheit ihn davor bewahren, hinterher in Melancholie zu versinken.
Aber das war reines Wunschdenken, dachte er bedauernd. Die gedankenlose Paarung mit einer Fremden erzeugte die schlimmste Form von Depression. Er würde es bereuen, sobald es vorüber war. Sein Interesse war nicht groß genug, um soviel aufs Spiel zu setzen.
Andererseits wirkte Enthaltsamkeit bei einer Orgie höchst verdächtig. Wenn er sich schon nicht beteiligte, mußte er wenigstens so tun als ob.
Die Dinge hatten sich weiterentwickelt, während er und Lizzie sich küßten. Als ein kehliges Stöhnen unter dem Tisch hervordrang, sah Lucien nach unten und entdeckte eine Frau, die ihre Talente an Roderick Harford erprobte. Chiswick torkelte mit zwei Blondinen im Arm in den benachbarten Salon, wo der Teppich weicher und das Feuer wärmer war. Nunfield lag auf dem Bauch und saugte an den Zehen eine dunkelhaarigen Schönen. Auch die anderen Gäste begaben sich paarweise in verschiedene stille Ecken.
Lucien stellte den Rotschopf wieder auf die Füße und stand auf.
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