Tanz der Sinne
klassische Profil gehörten unzweifelbar Jane.
Seine Finger krampften sich um das Opernglas.
Die Frau, die er für einen idealistischen, zurückhaltenden Blaustrumpf gehalten hatte, war Schauspielerin. Noch dazu eine, die keinerlei Hemmungen hatte, einem Theater voll Fremder ein unanständiges Maß ihres lieblichen Körpers darzubieten.
Er gab das Opernglas zurück. Mit gutverhohlener Neugier fragte er: »Wer ist die Solotänzerin?«
»Das ist Miss James – Cassie James. Sie spielt Anna, die Geliebte. Sie ist sehr gut, nicht wahr?«
Sie war mehr als gut, sie war atemberaubend. Ein Leuchten, das die gesamte Bühne erhellte, umgab sie und löschte die anderen Schauspieler aus.
Ebenso gebannt wie Lucien, erhob Horatio sich vom Lagerfeuer und fing an, mit Anna zu tanzen.
Kokett warf sie ihr schwarzes Haar zurück und schwenkte ihre schäumenden Unterröcke, während sie tanzte. Mit jeder Drehung flog ihr Rocksaum höher und höher.
»Jetzt, gleich können Sie die berühmte Tätowierung 8ehen«, sagte Ives leise. »Passen Sie auf, über dem rechten Knie.«
Gleich darauf wirbelten die Röcke hoch genug, um eine Zeichnung an der Innenseite ihres Schenkels zu enthüllen. Der Anblick erzeugte ein ohrenbetäubendes Brüllen männlicher Zustimmung im Publikum.
Zuvorkommend ließ Anna ihre Röcke noch einmal fliegen und provozierte noch mehr Zurufe. Lucien hätte am liebsten mit den Zähnen geknirscht.
»Was stellt die Tätowierung dar, eine Blume?«
»Nein, einen Schmetterling.«
Ives gab ihm das Opernglas wieder, und bei Annas nächstem Sprung war Lucien der Ausblick auf einen frivolen schwarz-weißen Schmetterling auf ihrem seidigen Schenkel vergönnt. Er sehnte sich danach, sie in ein Laken zu hüllen, das sie von Kopf bis Fuß bedeckte. Danach, ihr den lügnerischen Hals umzudrehen. Außerdem, und das beinahe bis zum Wahnsinn, danach, seine Lippen auf den lockenden, sinnverwirrenden Schmetterling zu pressen, dann höher…
In dem Gefühl zu ersticken, schloß er die Augen, bis er wieder atmen konnte. Als er sie wieder öffnete, senkte sich der Vorhang zur Pause. Er wandte sich seinem Begleiter zu. »Erzählen Sie mir mehr von Cassie James.«
»Sie interessieren sich für Sie?« Ives grinste.
»Nun, es heißt, daß sie jede Aussicht hat, die nächste Mrs. Jordan zu werden. Sie ist vor drei oder vier Jahren zum erstenmal in London aufgetreten, glaube ich, aber nur in kleinen Rollen, deswegen ist sie in die Provinz gegangen.
Vor zwei Jahren habe ich sie im Königlichen Theater in York gesehen, und sie war großartig.
Der Intendant des Marlowe hat beschlossen, daß Cassie für London bereit ist, sie für diese Saison engagiert und Die Zigeunerbraut für sie geschrieben. Sowohl sie als auch das Stück sind ein großer Erfolg.«
Lucien interessierte sich keinen Pfifferling für ihre schauspielerischen Erfolge. »Hat Miss James einen Beschützer?«
»Nicht, daß ich wüßte. Ich glaube, sie zieht es vor, mehrere Liebhaber gleichzeitig zu haben.«
»Einzelheiten, bitte.«
»Sie sind wirklich interessiert, oder? Tut mir leid, aber ich weiß beim besten Willen nicht, wer in ihrem Bett gewesen ist – sie ist ziemlich diskret für eine Schauspielerin. In York habe ich sie mit irgendeinem Kolonialisten zusammen gesehen –
einem Kanadier, glaube ich, oder einem Amerikaner, aber ich habe keine Ahnung, wie er heißt.« Ives überlegte einen Augenblick. »Nunfield war hinter ihr her. Ich war mit ihm zusammen, als sie letzten September ihre erste Vorstellung in London gegeben hat. Er reagierte genauso wie Sie.«
Luciens Atemnot kehrte zurück. »Hat er Erfolg gehabt?«
»Ich glaube nicht, aber wie gesagt, ich will nichts beschwören. Ich weiß, daß er ihr eine sehr großzügige Summe angeboten hat.«
Lucien fragte sich, mit wievielen Männern »Jane«
geschlafen haben mochte, seit sie sich vor ihm als verzweifelte junge Dame ausgegeben hatte.
Schauspielerin. Da lag der Schlüssel. Es erklärte die Perücken, die Schminke, die Fähigkeit, verschiedene Persönlichkeiten zu verkörpern.
Selbst Ives, der Cassie James, die aufstrebende Komödiantin, kannte, hatte sie nicht erkannt, als er ihr als Sally zu nahe getreten war.
Die einzig ernste Frage stellte sich, warum sie hinter den Höllenhunden her war. Eine schreckliche Möglichkeit schwebte Lucien vor, daß sie Nunfields Mätresse war und in seinem Auftrag spionierte, entweder, um etwas Bestimmtes zu erfahren oder weil die beiden die Idee amüsant fanden. Oder
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