Tanz der Sinne
dem Bett. »Linnie war eine halbe Stunde jünger als ich. Angeblich hat der Arzt geglaubt, daß sie den Tag nicht überleben würde, aber sie hat alle überrascht. Wir waren natürlich keine eineiigen Zwillinge, aber wir sahen einander sehr ähnlich, außer, daß sie so viel kleiner war, daß sie allgemein für ein oder zwei Jahre jünger gehalten wurde.«
Er wanderte lautlos, auf nackten Füßen, durch den Raum. »Meine frühesten Erinnerungen haben alle mit ihr zu tun. Sie war still und sah so zerbrechlich aus, als sei sie nicht von dieser Welt, aber sie war sehr klug und verständig. Einmal, als wir vier oder fünf waren, habe ich gehört, wie ihr Kindermädchen gesagt hat, Lady Elinor wäre nur zu Besuch da von den Engeln und würde nicht lange bei uns bleiben.
Ich habe geschworen, daß ich ihr beweisen würde, wie unrecht sie hat, daß ich Linnie nicht sterben lassen würde. Ich hatte einen sechsten Sinn, was sie betraf – wenn sie in der Klemme war, wußte ich es sofort. Wenn sie krank war, habe ich ihr meine… meine Kraft geliehen. Einmal bin ich von meinem Schaukelpferd gesprungen und in den Gang gerannt und hab’ sie gerade noch gefangen, bevor sie aus dem Fenster gefallen ist. Sie hatte einen Vogel herein locken wollen und nicht aufgepaßt.«
Er lächelte ein wenig. »Sie wußte auch immer alles von mir. Einmal hat mein Pony mich abgeworfen, und ich war bewußtlos. Sie hat unseren Vater direkt zu mir geführt. Alle hielten mich für den ›dominanten‹ Zwilling, aber so war es nicht. Sie war zwar ruhig, aber sie war die eigentliche Anführerin. Es war mir fast unmöglich, ihr irgend etwas abzuschlagen. Sie liebte Streiche, aber wenn wir Ärger bekamen, habe ich mimer darauf bestanden, daß es meine Schuld war und ich die Strafe verdient hatte, weil ich der Ältere war. Es hat ihr nicht gefallen, aber ich konnte nicht ertragen, daß sie bestraft wurde, und in diesem Punkt hab’ ich mich durchgesetzt.«
»Ich dachte, daß ich sie immer beschützen könnte.« Er blieb am Fenster stehen und schob die Vorhänge zur Seite, um in die dunkle Nacht hinauszustarren. »Aber ich habe versagt.«
»Wie alt warst du, als du sie verloren hast?«
»Elf.« Er schwieg lange, bevor er weitersprach.
»Meine Eltern waren nachgiebig, aber sie bestanden darauf, mich, als ich neun war, nach Eton zu schicken, obwohl ich sie angefleht habe, mich zusammen mit Linnie in Ashdown unterrichten zu lassen. Die Trennung war die bitterste Erfahrung meines Lebens. Man mußte uns mit Gewalt voneinander losreißen, und wir weinten beide hysterisch. Es war schrecklich für meine Eltern, besonders für meine Mutter, aber ich war der zukünftige Graf von Strathmore, und alle Grafen von Stathmore waren nach Eton gegangen und damit hatte es sich. In den ersten Wochen habe ich jede Nacht geweint, und Linnie hat dasselbe in Ashdown getan. Wir haben einander jeden Tag geschrieben. Ich habe für ihre Briefe gelebt.«
Die Vorstellung, wie die Kinder voneinander getrennt worden waren, machte Kit erschauern.
Kira und sie waren wenigstens schon erwachsen gewesen. »Als Zwilling warst du an Teilen und Nähe gewöhnt. Vielleicht hast du deswegen so tiefe, dauerhafte Freundschaften in Eton geschlossen.«
Seine Stirn furchte sich. »Ich habe nie daran gedacht, aber vielleicht hast du recht. Auf jeden Fall hatte ich Glück mit meinen Freunden. Zuerst habe ich Michael getroffen, ungefähr zwei Wochen nach Schulbeginn. Er hat mich gefunden, als ich weinend in einer Ecke der Kapelle hockte. Die meisten Jungen hätten sich über mich lustig gemacht, aber Michael hat nur gefragt, was los ist. Ich hab’ ihm erzählt, wie sehr ich meine Zwillingsschwester vermisse. Er hat darüber nachgedacht und gesagt, daß sein großer Bruder gemein ist und ob ich Lust hätte, sein Stiefbruder zu sein.« Lucien lächelte ein wenig bei der Erinnerung.
»Danach wurde Eton erträglicher. Linnie und ich gewöhnten uns daran, voneinander getrennt zu sein, selbst, wenn es uns nicht gefiel. Ich glaube, die Trennung war schwerer für sie, weil sie keine neuen Freunde hatte, die sie ablenken konnten.
Wenn ich in den Ferien nach Hause kam, sah sie so zerbrechlich aus, daß sie fast durchsichtig wirkte. Sie war wie eine Flamme, die zu hell brennt.«
»Ist sie an einer Krankheit gestorben?« fragte Kit leise.
»Es war ein Unfall. Ein dummer, schrecklicher Unfall.« Luciens Finger krampften sich in den Samtvorhang. »Es war gegen Ende der Weihnachtsferien, kurz bevor ich
Weitere Kostenlose Bücher